Recep Tayyip Erdogan, der Herrscher – so kann man ihn wohl mittlerweile durchaus nennen - im „Weißen Palast“ von Ankara sorgt nicht erst seit dem Putschversuch vom 15. Juli für so viele Gründe, an seiner Qualität als lupenreiner Demokrat zu zweifeln, dass man unmöglich alle bei einem einzigen Treffen ansprechen kann. So beließ es die Kanzlerin zumindest in der Außendarstellung bei der sanften Ermahnung, die Gewaltenteilung in der Türkei nicht aufzuheben. Nun weiß Erdogan also von Merkel: „Opposition gehört zu einer Demokratie dazu“. Er weiß aber auch nach dem fünften Merkel-Besuch in Folge (stets vor zwei großen türkischen und einer kleinen deutschen Flagge), dass das für ihn keine konkreten Folgen haben muss.
Die endlose Geduld der Kanzlerin mit Erdogan kann niemanden überraschen. Schließlich ist die politische Glaubwürdigkeit Merkels dank des so genannten Flüchtlingsdeals von der Kooperationsbereitschaft des Bewohners des Weißen Palasts abhängig. Erstaunlich kann man es aber durchaus finden, dass sich die Empörungslust der deutschen Öffentlichkeit derzeit fast ausschließlich auf Washington statt auf Ankara fokussiert.
Dabei sind in den USA bislang weder Hunderte Journalisten und Oppositionsparlamentarier inhaftiert, noch tausende Beamte, Offiziere, und Lehrer fristlos entlassen worden. Man hat auch noch nicht von amerikanischen Asylanträgen in Deutschland gehört. Auch hat die US-Armee noch keine ethnische Minderheit im eigenen Land mit Artillerie und Bombern bekämpft, oder gar eine ganze Altstadt dem Erdboden gleichgemacht, wie es die türkische Armee in den kurdisch geprägten Regionen der Türkei tat und tut.
So gut wie völlig übersehen hat die deutsche Öffentlichkeit die aktuelle Reform der Schullehrpläne in der Türkei. Eine Tat des erdoganschen Staatsapparates, die nicht weniger als die polizeilichen Repressionsmaßnahmen gegen die Vertreter der kemalistischen Eliten in Beamtenschaft, Militär und Medien zeigt, wohin die Reise geht. Nämlich schnurstracks in den Islamismus.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Fast nur aus österreichischen Medien war in der vergangenen Woche zu erfahren, dass an türkischen Schulen künftig die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt werden wird. Außerdem wird nach den neuen Lehrplänen Atheismus generell zu einer Geisteskrankheit erklärt und im Geschichtsunterricht das Andenken an Mustafa Ismet Inönü (1884-1973) getilgt. Der General, dessen Ehrennamen die beiden siegreichen Schlachten beim Ort Inönü gegen die Griechen 1921 verweist, war Kemal Atatürks engster Mitstreiter bei der Schaffung der türkischen Republik und sein Nachfolger als Staatspräsident (1938-1950). Deutlicher kann die regierende AKP nicht machen, was sie vom säkularen Kemalismus hält. Der nächste Schritt wäre dann die Schleifung des Andenkens von Atatürk selbst.
Eine Petitesse der Bildungspolitik?