Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat der SPD faire Gespräche über eine Neuauflage der großen Koalition angeboten und zugleich Schwerpunkte einer künftigen Regierung benannt. Wie die Sondierungen mit FDP und Grünen wolle ihre Partei die Gespräche mit den Sozialdemokraten „ernsthaft, engagiert, redlich“ führen, sagte die Kanzlerin nach einer CDU-Vorstandssitzung am Montag in Berlin. Nach ersten Forderungen aus der SPD für eine künftige Steuer-, Sozial- und Gesundheitspolitik hob Merkel hervor, dass es Themen mit „größerer Dringlichkeit“ als vor vier Jahren gebe.
Merkel nannte das „Auseinanderfallen der Lebenswirklichkeit“, das viele Menschen befürchteten, die Wohnungsnot in Ballungsräumen sowie die Angst in dünn besiedelten Regionen, vom öffentlichen Personennahverkehr, der medizinischen Versorgung und Schulen abgeschnitten zu sein. Darauf werde eine neue Regierung in den nächsten vier Jahren Antworten geben müssen. Auch machten drängende europäische und internationale Fragen die Bildung einer stabilen Regierung nötig.
SPD-Chef Martin Schulz schloss eine Zusammenarbeit mit CDU und CSU nicht aus. Er sagte aber auch: „Keine Option ist vom Tisch.“ Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung gelten eine Neuauflage der großen Koalition sowie eine von der SPD tolerierte Minderheitsregierung als mögliche Alternativen zur Neuwahl. Inhaltliche Richtschnur wird laut Schulz das Wahlprogramm der Sozialdemokraten werden: „Unser Programm gilt. Jede unserer Forderungen ist berechtigt.“
Charme und Leid einer neuen großen Koalition
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Chefs von CDU, CSU und SPD für die kommende Woche zu einem gemeinsamen Gespräch über die Regierungsbildung eingeladen. Dies beflügelt die Spekulationen, dass es nach den gescheiterten „Jamaika“-Sondierungen zu einer Wiederauflage der großen Koalition oder der Duldung einer Unions-Regierung durch die SPD kommen könnte.
Der große Vorteil einer Neuauflage der großen Koalition wären Stabilität und Kontinuität. Davon profitieren viele europäische Partner – allen voran Frankreich. Auch wenn es Differenzen etwa in der Aufstellung zu den Vorstellungen von Präsident Emmanuel Macron gibt: Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, den großen Linien der Außenpolitik und auch der Europapolitik gibt es die größten Überschneidungen. Sowohl Schulz als auch Außenminister Sigmar Gabriel haben eigene enge Beziehungen zu Macron.
An dem gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Kurs dürften auch die Positionierungen führender SPD-Politiker Richtung Washington und Moskau im Wahlkampf nichts ändern. Nicht einmal Mehrausgaben für die Bundeswehr dürften ein Problem sein. Denn SPD-Chef Schulz lehnt zwar das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ab – sprach aber im Wahlkampf stets davon, dass man einerseits nicht „aufrüsten“ wolle, die Bundeswehr aber andererseits sehr wohl besser „ausrüsten“ müsse. Die Union ihrerseits bestand auch bei den Jamaika-Sondierungen nicht auf dem Zwei-Prozent-Ziel.
Union und SPD hatten eine Reihe von innenpolitischen Gesetzesverschärfungen im Zusammenhang mit dem Antiterrorkampf durchgesetzt – die FDP und Grüne ihrerseits ablehnen. Auch in der Industriepolitik stehen sich Union und SPD nicht ablehnend gegenüber, sondern befürworten durchaus die Rolle eines sich aktiv einmischenden Staates. Beide Parteien streben die Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben an. In der Energie- und Klimapolitik steht man sich näher als mit den Grünen oder der FDP. Steuerliche Entlastungen wären angesichts der politischen Kräfteverhältnisse einfacher durch den Bundesrat zu bringen.
„Das kann eine große Koalition besser als jedwede andere Koalition“, sagte CDU-Bundesvorstandsmitglied Mike Mohring mit Blick auf eine gemeinsame Rentenreform. Zwar war die Union unzufrieden mit der von der SPD durchgesetzten Rente mit 63. Aber etwa bei der Verbesserung der Erwerbsminderungsrente oder langfristigen Überlegungen gibt es keine grundsätzlichen Differenzen. Auch die Union will das künftige Rentenniveau stabilisieren. Gestritten wurde und würde vor allem über die Wege dorthin.
Spekuliert wird, dass die SPD ihre Absage an eine große Koalition nur dann überwinden könnte, wenn sie für die Union schmerzhafte Forderungen durchsetzen kann. Dazu könnten etwa eine Bürgerversicherung, eine Steuererhöhung für große Erbschaften, eine verschärfte Mietpreisbremse oder der von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz geforderte Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde gehören.
Als unwahrscheinlich gilt, dass sich die Union auf einen Verzicht auf Merkel einlassen würde. Aber selbst in der Union erwartet man, dass man den Sozialdemokraten eine Korrektur ihrer Anti-Groko-Festlegung „abkaufen“ müsste. Das macht eine Neuauflage der großen Koalition nicht unbedingt wahrscheinlicher.
Die Frage ist, was der Preis für die Duldung einer unionsgeführten Minderheitsregierung wäre. Denkbar wäre eine grundsätzliche Unterstützung der Sozialdemokraten in den Bereichen Außen-, Europa- oder der Rentenpolitik. In Unionskreisen wird eingewandt, dass schon die Personalinteressen der Sozialdemokraten nicht unbedingt für diese Variante sprechen. Denn in diesem Fall würden CDU und CSU alle Ministerposten übernehmen. Die Sozialdemokraten müssten in diesem Falle eine Regierung Merkel mittragen, ohne im Rampenlicht stehen zu können. Dabei wird vor allem Außenminister Sigmar Gabriel nachgesagt, dass er gerne im Amt bleiben würde.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat für Donnerstag Merkel, SPD-Chef Martin Schulz und CSU-Chef Horst Seehofer zu Gesprächen ins Schloss Bellevue eingeladen. Um nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen einen Ausweg aus der politischen Hängepartie zu suchen, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montag eine neue Runde von Gesprächen mit Spitzenpolitikern anberaumt. Geplant waren Treffen mit den Fraktionschefs von Grünen, Union und Linkspartei.
Für Donnerstag hat Steinmeier Bundeskanzlerin Angela Merkel, SPD-Chef Martin Schulz und CSU-Chef Horst Seehofer ins Schloss Bellevue eingeladen. Laut Schulz wird dann das SPD-Präsidium am Freitag erneut zusammenkommen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Die angekündigte Befragung der SPD-Mitglieder wird es laut Schulz erst „am Ende des Prozesses“ geben - etwa über einen möglichen Koalitionsvertrag.
Merkel machte deutlich, dass die Union bei Gesprächen mit der SPD über eine Neuauflage der großen Koalition natürlich von ihrem Wahlprogramm mit bestimmten „sehr bedeutsamen“ Punkten ausgehe. Führende CDU-Politiker wollten die SPD bei Gesprächen nicht unter Zeitdruck setzen. Sie gehen daher davon aus, dass Verhandlungen frühestens im neuen Jahr beginnen können.
CDU-Vize Julia Klöckner sagte im ARD-„Morgenmagazin“, Gründlichkeit gehe vor Schnelligkeit. Aber im neuen Jahr „sollte es überall grünes Licht geben, dass man über eine Koalition verhandelt“. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) warb dafür, die SPD nicht unter Zeitdruck zu setzen. „Aber dann brauchen wir schnell eine Regierung“, sagte er in der „Bild“-Sendung „Die richtigen Fragen“.
SPD-Vize Ralf Stegner warb seinerseits um mehr Zeit. Klar sei aber auch: „Wir können nicht bis Ostern warten“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Er bekräftigte, seine Partei werde nur mit der Union koalieren, wenn gewisse Bedingungen erfüllt würden.
Die nordrhein-westfälische SPD formulierte Kernforderungen für Sondierungen. Dazu gehörten „eine paritätisch finanzierte Bürgerversicherung“ und eine Rentenreform mit dem Ziel, das Rentenniveau zu sichern und perspektivisch auf rund 50 Prozent anzuheben, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ (Montag) aus einem Brief an Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles.
Gefordert werde zudem eine Reform der Einkommensteuer, „die untere und mittlere Einkommen sowie Familien entlastet und zugleich aufkommensneutral ist“. Mit einer „deutlich höheren“ Besteuerung besonders hoher Vermögen solle ein Investitionsprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe „für die Bereiche Bildung, Kommunen und Wohnen“ finanziert werden.
CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn sagte im Deutschlandfunk, die CDU sei bereit zu Gesprächen mit der SPD. „Das heißt auch, dass niemand Forderungen aufbaut, die der andere nicht erfüllen kann. Wenn das nicht geht, muss man auch über andere Optionen reden.“
Gegen die Forderung nach einer je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierte Bürgerversicherung im Gesundheitswesen liefen vor allem Ärzteverbände Sturm. Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, erklärte: „Wer die Bürgerversicherung will, der startet den Turbolader in die Zwei-Klassen-Medizin. Noch gehört unser Gesundheitssystem zu den besten der Welt, mit freier Arztwahl und einer Medizin auf hohem Niveau.“
Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) wandte sich ebenfalls vehement gegen eine Bürgerversicherung. Der Vorsitzender des PKV-Verbandes, Uwe Laue, erklärte: „Deutschland hat wirklich wichtigere Probleme als eine willkürliche Radikalreform an unserem gut funktionierenden Gesundheitswesen.“