Es ist höchste Vorsicht geboten, wenn Selbstverständlichkeiten zu Meldungen werden. Noch mehr, wenn Banalitäten den Rang von Sensationen erhalten. All das erleben wir gerade. Es begann gestern mit der Einlassung nicht von irgendwem, sondern immerhin der Bundeskanzlerin, die nach den Kölner Gewaltexzessen der Silvesternacht die „harte Antwort des Rechtsstaates“ einforderte.
Da möchte man nur entgegnen: Ja, was denn sonst? Und vielleicht noch hinzufügen: Wie kümmerlich denn ein Rechtsstaat aussähe, dem Härte – juristische wie physische – nicht zur Verfügung stünde?
Der offizielle Hinweis auf Männer, die „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum“ stammen könnten, hat ausgereicht, um einen gewaltigen Resonanzboden zum Beben zu bringen. Es könnte sich bei den Tätern um Flüchtlinge handeln. Wohl gemerkt: Es könnte. An der Bewertung, Verfolgung und Bestrafung der Taten selbst darf dieser Konjunktiv rein gar nichts ändern, am polit-medial-gesellschaftlichen Diskurs hingegen ändert er – alles. Denn dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er den Fakten längst davongelaufen ist. Auf Gewissheiten, um gar nicht von so etwas Altmodischem wie „Wahrheit“ zu reden, wird nicht gewartet.
Leider hat auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière diese Geduld nicht gehabt. De Maizière, üblicherweise einer der unaufgeregten, besonnenen Politiker der Hauptstadt, sagte heute in Bezug auf Köln einen schönen, eben doch altmodischen Satz („Die Wahrheit ist der beste Maßstab“), nur um sich gleich darauf ungerührt an die vorauseilende Bearbeitung von Problemen zu machen, die noch gar nicht recht umrissen werden können. So wurde der eigentliche Anlass seines Auftritts, die Vorstellung des trockenen „Migrationsbericht 2014“ der Bundesregierung, zur Nebensache.
Hintergründe zu den Übergriffen in Köln
Bisher erstaunlich wenig. Zeugen und Opfer berichten - laut Polizei übereinstimmend - von Männern, die „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum“ stammen. So hat es der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers auf der Pressekonferenz am Montag formuliert. Demnach soll eine Gruppe von 1000 Männern auf dem Domplatz gewesen sein, die meisten von ihnen zwischen 15 und 35. In kleineren Gruppen sollen sie Frauen umzingelt, sexuell belästigt und ausgeraubt haben, in einem Fall auch vergewaltigt. 90 Anzeigen gibt es bis Dienstagmittag. „Wir haben noch keine konkreten Täterhinweise“, sagt Heidemarie Wiehler von der Direktion Kriminalität.
Von den sexuellen Übergriffen und Diebstählen erfuhr die Polizei Wurm zufolge größtenteils im Laufe der Silvesternacht durch die wachsende Zahl von Anzeigen. Die Taten selbst hätten die anwesenden Polizeibeamten nicht beobachtet, weil diese sich in einer riesigen und unübersichtlichen Menschenmenge abgespielt hätten. Festnahmen habe es keine gegeben, weil Zeugen und Opfer die Täter im Getümmel nicht wiedererkannt hätten.
Die Bundespolizei, die für den Bahnhof zuständig ist, war nach Angaben von Wolfgang Wurm, Präsident der Bundespolizeidirektion Sankt Augustin, mit 70 Kräften vor Ort. Die Kölner Polizei hatte im Bereich Hauptbahnhof und Dom rund 140 Beamte im Einsatz. Einige davon wurden aus anderen Teilen der Innenstadt zum Bahnhof geschickt, als dort die Lage eskalierte. „Für den Einsatz, den wir voraussehen konnten, waren wir sehr gut aufgestellt“, sagt Wurm. Wie sich der Einsatz dann tatsächlich entwickelt habe, sei eine „völlig neue Erfahrung“ und „für uns nicht absehbar“ gewesen: „Dafür hätten wir sicherlich ein wenig mehr Kräfte benötigt.“
Viele Menschen melden sich zu Wort, die der Polizei vorwerfen, mit der Situation überfordert gewesen zu sein und die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Der nordrhein-westfälische CDU-Chef Armin Laschet kritisiert auf Twitter: „Erneut unglaubliche Fehleinschätzung der Kölner Polizei.“ Dabei bezieht er sich auf die Einsatzbilanz am Neujahrsmorgen, in der von „ausgelassener Stimmung“, „weitgehend friedlichen Feiern“ und einer „entspannten Einsatzlage“ die Rede war.
Polizeipräsident Albers räumte bei der Pressekonferenz am Dienstag Fehler ein: „Diese erste Auskunft war falsch.“ Sven Lehmann, Vorsitzender der NRW-Grünen, fordert: „Aufgeklärt werden muss auch, warum die Polizei in Köln erneut von einer aggressiv auftretenden Menschenmenge derart überrascht wurde.“ Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer fragt in der Zeitschrift „Emma“: „Wie ist es erklärbar, dass Hunderte von Frauen unter den Augen eines so massiven Polizeiaufgebotes sexuell belästigt werden?“
Augenzeugen und Opfer berichten in mehreren Medien von ihren Erlebnissen. „Ich hatte das Gefühl, die Polizei und die Sicherheitsleute der Bahn waren nicht nur überfordert, sondern hatten auch Angst, die Lage könnte eskalieren.“ (zitiert der „Kölner Stadt-Anzeiger“ eine Frau aus Overath, die mit ihrer Freundin in der Umgebung des Doms gleich mehrfach von vier bis sechs jungen Männern umkreist worden sein soll).
„Die Stimmung war aggressiv. Plötzlich wurde ich von hinten - ohne dass mein Freund es sah - von mehreren Männern angegrapscht. Ich kann sagen, dass es mehrere waren, da zeitgleich Hände an meinen Brüsten und an meinem Po waren.“(Berichtet eine 40-Jährige dem WDR, die in der Silvesternacht mit ihrem Freund auf dem Weg nach Troisdorf gewesen sein soll)
Vor allem im Hinblick auf den bevorstehenden Karneval kündigt die Polizei an, die Einsatzkräfte bei Großveranstaltungen weiter aufzustocken, auch mit Zivilbeamten. Polizeipräsident Albers zufolge soll auch geprüft werden, ob bestimmte Bereiche stärker mit Videokameras überwacht werden. Über weitere Maßnahmen wollen Polizei und Stadt gemeinsam nachdenken.
Nehmen wir also zuerst an, die Täter von Köln wären allesamt oder in ihrer Mehrzahl Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Ohne diese Voraussetzung zu benennen, referierte der Innenminister in Berlin also über die strafrechtlichen Bedingungen, die vorliegen müssten, um Asylbewerber abzuschieben: eine Haftstrafe von drei Jahren ohne Bewährung. Und dann fügte er ungefragt an, dass man „darüber zu reden habe, ob das ändern ist“. Im Klartext: Ob nicht schon bei kleineren Vergehen die Ausweisungen folgen muss.
Nehmen wir nun an, die Täter wären hingegen Deutsche mit Migrationshintergrund oder Ausländer, die schon mehrere Jahre hier leben. Auch für diese Eventualität war de Maiziere gedanklich präpariert: „Wir wollen keine Parallelgesellschaften in Deutschland“, sagte er. Und: Eine „vollständige Anerkennung unsere Werteordnung“ sei unerlässlich. Dafür müsse Integrationspolitik fördern und fordern.
Halten wir also fest: Noch weiß niemand sicher, ob die Gewaltnacht von Köln ein Ausbruch von Flüchtlingsgewalt war, ein grauenhafter Ausdruck von Integrationsversagen, vielleicht gar beides. Möglicherweise ist alles sogar noch viel komplizierter. Auch de Maizière weiß darüber noch nicht mehr. Von Politikern seines Schlages dürfte man dann eigentlich erwarten, dass sie sich zurückhalten und nicht spekulieren. Dass sie keine Lösungen anbieten für Herausforderungen, die sich (noch) nicht stellen und erst recht keine Stimmungen befeuern, die keiner weiteren Nahrung bedürfen.
Den Innenminister hat das gerade nicht abgehalten. Er räsonierte lieber über Verschärfungen des Abschieberechts und platzierte Ach-was-Banalitäten über die deutsche Integrationspolitik, über die so mancher Streetworker in, sagen wir, Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln nicht mal wird müde lächeln können. Er hätte besser geschwiegen.