Verkehrte Welt: Nicht die oppositionelle Konkurrenz macht den Unions-Parteien Angst, sondern der Wunschpartner FDP. Während der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zielstrebig auf seinem Linkskurs von Fettnapf zu Fettnapf tapst, zelebrieren die taumelnden Liberalen ihren Führungsstreit – und gefährden damit die Regierungsmacht der CDU in Hannover und Berlin. Die Abstimmung über den Landtag in Hannover am Sonntag stellt die Weichen für das Jahr 2013 und die Bundestagswahl am 22. September.
Scheitert die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde, „könnte es schon ganz bald Neuwahlen geben“, fürchtet Präsidiumsmitglied Jörg-Uwe Hahn aus Hessen den Rausschmiss der unsicheren Kantonisten aus der Bundesregierung. Bei so viel Panik spendet selbst die sonst so FDP-skeptische CSU Trost. „Auf solche Gerüchte gebe ich nichts“, sagt Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner. „Dafür gibt es keinen Anlass, und das würden gerade bürgerliche Wähler auch zu Recht nicht akzeptieren.“ Die Koalition arbeite unbeirrt weiter.
Dafür verlangen die Bayern aber noch mehr Einsatz. „Für die großen Themen tariflicher Mindestlohn, Mütterrente und Wohnungsnot sollte die Koalition bis zum Sommer zumindest Grundlinien festlegen“, verlangt der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer. „Das sind wichtige Themen, die nicht in den Wahlkampf gezogen werden dürfen. Da müssen wir vorher Antworten geben.“ Auch bei der Energiepolitik will die CSU noch liefern. „Die Koalition sollte im März bei der Reform des EEG vorankommen, um den Anstieg der Strompreise zu begrenzen“, verlangt der Bayer eine Kürzung bei den erneuerbaren Energien. „Klar ist, dass die Förderung für die bisher schon montierten oder bestellten Anlagen Bestandsschutz behält. Aber maßvolle Veränderungen für künftige Anlagen werden auf Akzeptanz stoßen.“
Auf der anderen Seite des Parteienspektrums sorgen sich auch die Grünen um ihren Wunschpartner. Mit dem Absacken der SPD in den Umfragen schwindet auch die Machtoption der Ökopartei. Richtig gemocht haben die Grünen Steinbrück nie. Ökologisch und sozial habe er kaum Gespür, Themen wie Frauenpolitik seien ihm fremd. Aber er sei ein scharfer und schneller Analytiker, fasst ein Grüner zusammen, der den SPD-Vormann länger kennt.
Die Schwächen des SPD-Kandidaten bringen den Ökos wohl kurzfristig in Niedersachsen ein paar neue Sympathisanten. Bei der Bundestagswahl würden die SPD-Wähler aber eher zu Hause bleiben, ist die einhellige Meinung der Grünen-Bundestagsabgeordneten bei ihrer Klausur in Weimar. Dann reiche es nicht für einen Regierungswechsel in Berlin.
Die Spitzenkandidaten der Wahl
Als erster Ministerpräsident mit doppelter Staatsbürgerschaft liegt der niedersächsische CDU-Spitzenkandidat David McAllister in Umfragen konstant an der Spitze der Wählergunst. Der am 12. Januar 1971 als Sohn einer deutschen Lehrerin und eines schottischen Militärs in Berlin geborene Jurist wurde 2010 Regierungschef in Niedersachsen, als sein Vorgänger Christian Wulff Bundespräsident wurde. Der mit einer Anwältin verheiratete zweifache Vater mit dem charmanten Auftreten hat sich zunächst voll auf die Landespolitik konzentriert. Obwohl er als politischer Ziehsohn von Kanzlerin Angela Merkel gilt, hielt sich der CDU-Landesvorsitzende bisher weitgehend aus der Bundespolitik zurück. Umfragen sehen ihn bisher weit vorne - wegen der Schwäche des Koalitionspartners FDP droht ihm aber eine Wahlschlappe.
Der Sozialdemokrat Stephan Weil gilt als Hoffnungsträger der SPD. Er soll die Sozialdemokraten in Niedersachsen nach zehn Jahren Opposition wieder an die Macht führen. Der 54-Jährige gilt als Mann des Ausgleichs und lässt sich gern als „bürgernah, sachlich, pragmatisch“ porträtieren. Als langjähriger Oberbürgermeister von Hannover hat der in Hamburg geborene Jurist Kompetenz in der Lokalpolitik, als ehemaliger Anwalt, Richter und Staatsanwalt ist er auch in der Welt der Paragrafen zu Hause. Doch dem Hobbykicker mit der randlosen Brille fehlt es über die Stadtgrenzen hinaus noch an Popularität - er selbst ist trotz der Favoritenrolle einer rot-grünen Koalition in Umfragen noch eher unbekannt. Seine Kritiker halten dem verheirateten Vater eines Sohnes vor, zu blass und bieder zu wirken.
Auch wenn Stefan Birkner es nicht gerne hört: Die Geschwindigkeit, mit der seine Karriere in der FDP seit 2011 Fahrt aufgenommen hat, verdankt der 39-Jährige auch der Krise seiner Partei. Am 25. September 2011 wurde der gebürtige Schweizer als Nachfolger von Philipp Rösler Chef der Landes-FDP. Rösler hatte den promovierten Juristen nach dem enttäuschenden Abschneiden der FDP bei der Kommunalwahl 2011 in Niedersachsen selbst als Kandidaten vorgeschlagen. Seit Januar 2012 ist Birkner als Umweltminister Mitglied der Landesregierung. Zuvor hatte der zweifache Vater in dem FDP-geführten Haus vier Jahre lang als Staatssekretär gearbeitet. Die Erwartungen in der Bundespartei an Birkner sind hoch. Der ruhig und ausgeglichen wirkende Politiker ist FDP-Mitglied seit 1991.
Ähnlich wie die Linken treten die Grünen mit einer Doppel-Spitze an. Die gebürtige Lübeckerin Anja Piel (47) wie auch der in Dänemark geborene Göttinger Stefan Wenzel (50) kamen über den Atomprotest zu den Grünen. Während Piel über Zwischenlager-Proteste in Grohnde ihre politische Heimat fand, war es bei Wenzel ein Schock: „Mitglied geworden bin ich am 29. April 1986, drei Tage nach Tschernobyl. Da saßen wir frustriert in der Küche und haben uns überlegt: Was machen wir jetzt?“, berichtet er. Piel tritt im Wahlkampf eher emotional auf, Wenzel kompetent und redegewandt, mitunter aber auch als nüchterner Argumentierer. Wenzel, der über eine jahrelange Erfahrung im Landesparlament verfügt, gilt bei einem rot-grünen Wahlsieg als möglicher Umweltminister, Piel als Fraktionschefin.
Das Spitzenduo der Linkspartei verbindet eine Parallele: Sowohl Manfred Sohn (57) wie auch Ursula Weisser-Roelle (60) haben aus anderen Parteien zur Linken gefunden. Der eloquente Sohn hat dabei den beeindruckendsten Spagat hinter sich: Die politische Karriere des Schülerzeitungsgründers begann bei der FDP, bevor er fünf Jahre später zur Jugendorganisation der SPD wechselte. Der von der französischen Revolution inspirierte Sohn fand seine endgültige politische Heimat, als er sich kritisch mit dem Gedankengut von Karl Marx auseinandersetzte. Auch Weisser-Roelle war lange Jahre SPD-Mitglied und engagierte sich - auch als Betriebsrätin - in der Gewerkschaft. Sie hatte die SPD vor allem auch aus Protest gegen das Reformprogramm „Agenda 2010“ verlassen und trat der Linken bei.
Der vollbärtige Baskenmützenträger Meinhart Ramaswamy (59) ist als Spitzenkandidat der Piratenpartei der schillernde Paradiesvogel unter den antretenden Politikern bei der Landtagswahl. In Wien als Sohn eines indischen Vaters und einer aus Tschechien stammenden Mutter geboren sieht er sich als „Internationalist“. Er schwärmt von der Idee eines Grundeinkommens für alle. Nach dem Studium der Kultur- und Sozialwissenschaften arbeitete der Göttinger als Werbegrafiker, Geschäftsführer einer Waldorf-Schule, Leiter eines anthroposophischen Instituts und Geschäftsführer eines Stadtradios. Der verheiratete Vater von sieben erwachsenen Kindern ist seit 2009 Pirat. Der reisefreudige Theater-Fan setzt sich für freie Bildung und offene Demokratie ein.
„Wenn Schwarz-Gelb rückstandslos abgelöst werden soll durch eine Kombination aus Grün und Rot, dann kommt es auf die Grünen an, damit die Roten nicht auf falsche Gedanken kommen“, sagt Fraktionschefin Renate Künast. Etwas deutlicher wird Kerstin Andreae, die den SPD-Rabauken eigentlich schätzt: „Ich fand ihn den richtigen Kandidaten“, sagt die Wirtschaftsexpertin. Aber die Kommentare über preiswerte Weine oder Kanzlergehälter machten es schwer, glaubwürdig zu bleiben. „Das macht uns nicht glücklich.“
Anders als die meisten auf den prominenten Plätzen der Grünen will Fraktionsvize Andreae nun weg von der Festlegung nur auf Rot-Grün. „Wir werden jetzt einen eigenständigen Wahlkampf machen. Das heißt, wir kämpfen um Inhalte und stellen nicht vorrangig die Schnittmenge mit den Roten in den Vordergrund.“ Doch das ist ein heikler Kurs, der schon manchem grünen Wahlkämpfer geschadet hat. Vielen Alternativ-Wählern ist ein Schielen hin zur CDU immer noch ein Graus.
Sieger oder Sieger
Die mächtigste Frau der Welt (laut US-Magazin „Forbes“) braucht die Wahl in der niedersächsischen Provinz am wenigsten zu fürchten. Stark steht die CDU da, mit rund 40 Prozent in den Umfragen. Bei Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte das Landtagsvotum keinerlei persönlichen Kratzer hinterlassen, egal, ob die CDU weiterhin den niedersächsischen Ministerpräsidenten stellt oder nicht.
Im Gegenteil, die Niedersachsen-Wahl dürfte Merkel sogar stärken. Denn das zu erwartende Ergebnis bestätigt den Öffnungskurs der CDU-Vorsitzenden nach links, hin zu den berühmt-berüchtigten „Großstadtwählern“. Viele konservativ-christliche Grundpfeiler hat Merkel in den vergangenen drei Jahren gelockert. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht, dem Ausstieg bei der Atomenergie, der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik und den ebenfalls umstrittenen Themen Kita-Ausbau, Betreuungsgeld oder Zusatzrente mutet Merkel vielen Unions-Anhängern vieles zu. Die Niedersachsen-Wahl ist nun der Testlauf, und es scheint, als wenn die neue Merkel-CDU für bürgerlich-konservative Wähler alternativlos ist.
Auch David McAllister wird die Wahl am 20. Januar unbeschadet überstehen. Was kann der CDU-Landeschef schließlich dafür, wenn er das Amt des Ministerpräsidenten verlieren sollte? Schuld wäre der schwindsüchtige Juniorpartner FDP. Der Wulff-Nachfolger ist zwischen Harz und Nordsee beliebt, echte Fehler sind ihm bisher nicht nachgewiesen. Folglich hat der 42-Jährige beste Zukunftsaussichten in der Politik, selbst wenn er jetzt den Posten als Ministerpräsident räumen müsste.
Da ministrabler Nachwuchs bei der CDU rar geworden ist, könnte McAllister nach einigen Monaten Schamfrist im niedersächsischen Landtag nach Berlin wechseln. Dort böte sich zum Beispiel der Posten eines Bundesbildungsministers an. Amtsinhaberin Annette Schavan ist durch die Plagiatsvorwürfe bei ihrer Doktorarbeit angezählt und könnte – so wie sie sich beim jüngsten CDU-Parteitag nicht mehr als Parteivize zur Verfügung stellte – spätestens nach der Bundestagswahl auch auf ihren Ministerposten verzichten. Dazu passt, dass sich McAllister intensiv um die Bildungspolitik kümmert; vorige Woche erst beschlossen Niedersachsen, Bayern und Sachsen einen Staatsvertrag zur Harmonisierung der Schulpolitik, um Familien mit schulpflichtigen Kindern den Umzug über Ländergrenzen zu erleichtern.
Keine Wechselstimmung
Vielleicht reicht es aber am nächsten Wochenende doch noch für Schwarz-Gelb. In jüngsten Umfragen legte die FDP auf fünf Prozent zu. „Das bürgerliche Lager wächst wieder“, frohlockt der CDU-Wirtschaftspolitiker Josef Schlarmann. Im Übrigen spürt der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) „keine Wechselstimmung“ in Niedersachsen.
Die gibt es auch nicht auf Bundesebene. Im Gegenteil, Bundeskanzlerin Merkel führt die Beliebtheitslisten der Politiker mit großem Abstand an. Gäbe es in Deutschland eine Direktwahl des Regierungschefs, Merkel würde wiedergewählt. Lediglich eine dramatische Verschärfung der Euro-Krise mit milliardenschweren Zahlungen aus dem Bundeshaushalt könnte noch dazwischenkommen.
Wissenswertes über Niedersachsen
Das größte Unternehmen in Niedersachsen ist Volkswagen. Alleine in den Werken in Wolfsburg (51.594 Beschäftigte), Hannover (12.604 Beschäftigte), Braunschweig (5.799 Beschäftigte) und Emden (7.604 Beschäftigte) arbeiten über 75.000 Niedersachsen. Weitere große Unternehmen und Arbeitgeber sind Continental und TUI.
Die Fläche von Niedersachsen beträgt 47.634,90 Km². Damit ist das Bundesland nach Bayern das zweitgrößte in der Bundesrepublik. 82 Prozent der Fläche bestehen aus Landwirtschafts- und Waldflächen.
Niedersachsen ist das Bundesland mit den meisten deutschen Nachbarländern. Angrenzende Länder sind: Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, , Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen.
Ein regelmäßiger Streitpunkt ist übrigens die Grenze zwischen Niedersachsen und den Niederlanden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie im Bereich der Ems-Mündung nie genau festgelegt. Zwar einigte man sich auf eine grundsätzlich gute Zusammenarbeit, aber etwa beim Bau von Offshore-Parks kommt es oftmals zu Differenzen.
Niedersachsen verfügt über die größten Erdgasvorkommen in Deutschland. 95 Prozent der Erdgasförderung entfallen auf das Bundesland. Zudem ist Niedersachsen führend beim Abbau von Torf, Kies und Sand.
In Niedersachsen leben rund acht Millionen Schweine, das sind etwa genau so viele wie menschliche Einwohner. Die Nutztierhaltung sorgt vielerorts für ordentliche Einkommen, sorgt aber auch dafür, dass die Böden stark belastet sind und im Grundwasser zu viel Gülle ist.
Logisch, die Amtssprache in Niedersachsen ist Deutsch, aber wegen einem Eintrag in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen sind auch Saterfriesisch und Niederdeutsch zum Amtsgebrauch zugelassen.
Deutschlandweit wurden nur fünf Minderheitssprachen (u.a. Saterfriesisch) und eine Regionalsprache (Niederdeutsch) als schützenswert empfunden.
In Niedersachsen leben etwa 7,922 Millionen Menschen (Stand 31. Juli 2012). Damit kommt das Land auf eine Bevölkerungsdichte von 166 Einwohnern pro Km² (Durchschnitt in Deutschland 229 Bewohner pro Km²). Nach Einwohnern ist Niedersachsen das viertgrößte Bundesland.
Am Ende hängt Merkels Kanzler-Schicksal von der Stärke respektive Schwäche der anderen Parteien im nächsten Bundestag ab, und dafür stellt die Niedersachsen-Wahl wichtige Weichen. Zieht die FDP nach der Landtagswahl endlich die Konsequenzen und löst ihr Personalproblem, damit Schwarz-Gelb auf Bundesebene eine neue Perspektive bekommt? Und geraten SPD und Grüne in so schweres Fahrwasser, dass sie in Berlin bestenfalls als Juniorpartner der Union mitregieren dürfen?
Stirb langsam
Jürgen Thumann, früherer Präsident des BDI, hat Mitleid. Mitleid mit Philipp Rösler. „Die FDP hat ihn doch gekannt, als sie ihn zum Vorsitzenden wählte“, kritisiert der Industrielle. Und doch, gesteht er, von den Liberalen werde „allein Brüderle“ in Wirtschaftskreisen akzeptiert. Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber berichtet von Dax-Vorständen, die Gespräche beim Wirtschaftsminister ablehnten, „solange da solche Leute wie Rösler sitzen“. Und Hans Michelbach, Unternehmer und CSU-Bundestagsabgeordneter, bescheinigt Rösler zwar, dass „alles richtig“ sei, was er sage, „aber wenn er auftritt, kommt er wie ein Praktikant rüber“. Gegenüber „gewachsenen Managern und Unternehmern“ sei nur der Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle satisfaktionsfähig. Das habe er gerade wieder bei einer Veranstaltung erlebt. „Brüderle könnte die FDP schon hochreißen.“
Und Rösler? Reagiert so, wie es ihm seiner Gegner vorwerfen und inzwischen sogar Vertraute nachsagen: Er führt nicht, er kämpft nicht. Oft haben sie ihm geraten, energischer aufzutreten – vergebens. In seiner Rede beim Stuttgarter Dreikönigstreffen trug Rösler den wichtigsten Satz seines Manuskripts gar nicht vor: „Was ich nicht akzeptieren kann, ist, wenn durch Profilierungssucht Einzelner dieser Erfolg in Niedersachsen für uns alle gefährdet wird.“ Statt der deutlichen Ermahnung forderte der FDP-Vorsitzende mit bergpredigthafter Geduld etwas mehr Geschlossenheit – und das, nachdem ihn sein Vorredner und Kabinettskollege Dirk Niebel auf offener Bühne gerade zum Rückzug aufgefordert hatte. Verwundert registrierte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt den laschen Auftritt: „Will der nicht mehr? Der muss doch wissen, welches Signal er damit in seine Partei sendet.“
Die öffentliche Wirkung ist inzwischen vielleicht Röslers Hauptproblem: Lange nutzte er die Energiewende nicht, um sich als Kämpfer zugunsten niedriger Strompreise für Bürger und Betriebe zu profilieren. Kurz nach Weihnachten präsentierte Rösler ein marktwirtschaftliches Grundsatzpapier, in dem er die Privatisierung von Staatsbeteiligungen forderte – just wenige Tage, nachdem auch er den Einstieg des Bundes bei EADS durchgewinkt hatte. Beim Mindestlohn, ereifern sich führende Parteifreunde, sei er auf harsche Positionen zurückgefallen, während die Partei intensiv nach einer liberalverträglichen Lohnuntergrenze suche (um damit Angriffe der Opposition auf die vermeintlich kaltherzigen Liberalen zu unterbinden).
Die Landtagswahl in Röslers Heimat hat seine Partei deshalb zur Entscheidung über den Chef hochgejazzt. Scheitern die Liberalen an der Fünf-Prozent-Hürde, muss er zurücktreten. Das weiß auch Rösler. Sechs Prozent, sieben Prozent müsse er schon bringen, forderten die liberalen Fallensteller ein. Weil sie selbst zu feige zum offenen Angriff sind, hoffen sie auf Exekution durch den Wähler. „Eigentlich ist Rösler nicht mehr zu retten“, sagt ein CDU-Ministerkollege, der ihn – wie fast jeder – menschlich schätzt. „Aber es war natürlich ein Fehler seiner Gegner, den Verbleib im Amt an ein bestimmtes Wahlergebnis zu ketten.“
Deshalb verbreitet das Rösler-Lager, wichtiger als hohe Prozentzahlen sei es, in Hannover weiter mitzuregieren. Dazu könnte nämlich schon der Sprung knapp über die Fünf-Prozent-Hürde reichen. Und dann, so sein Kalkül, gehe die Debatte nicht mehr um ihn, sondern über die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition auch im Bund. Der Wiederaufstieg der Freidemokraten sei dann eingeleitet.
Von langer Hand geplant
Das sieht Entwicklungsminister Dirk Niebel ganz anders. Er hält einen Stimmungswechsel auf Bundesebene mit Parteichef Rösler für ausgeschlossen. Aber: „Nach der Wahl in Niedersachsen wird eben kein Automatismus einsetzen, den Vorsitzenden abzulösen“, fürchtet einer von Niebels Mitstreitern. „Deshalb haben wir im November beschlossen: Wir müssen handeln, wir müssen vor der Niedersachsen-Wahl stärker schießen.“ Entsprechend feuerte der Kabinettskollege nicht nur eine ganze Salve kritischer Interviews ab, sondern attackierte auch beim Dreikönigstreffen. „Mutti braucht ein Brüderle“, heißt nun der Schlachtruf aus dem Niebel- Lager.
Streitthema Bildung - das wollen Niedersachsens Parteien
500 Euro zahlen Studierende pro Semester an Niedersachsens Hochschulen. Die CDU will, dass das so bleibt. Ginge es nach den Liberalen, dürften die Unis bis zu einer Obergrenze je nach Studienfach selbst festlegen, wie viel das Studium kosten soll. SPD und Grüne dagegen wollen die Gebühren spätestens Ende 2014 abschaffen. Die Linke will das Gratis-Studium ab sofort und für alle. Auch die Piraten sind gegen Gebühren.
SPD, Grüne, Linke und Piraten wollen das Abi nach 13 Jahren zurück. Wer die Reifeprüfung schon nach 12 Jahren ablegen will, soll die Möglichkeit dazu auf dem Gymnasium bekommen. CDU und FDP bleiben dabei, dass 12 Schuljahre ausreichen.
Seit 2008 dürfen in Niedersachsen wieder integrierte Gesamtschulen gegründet werden - aber nur, wenn sie andere Schulformen nicht ersetzen und es in jeder Stufe mindestens fünf Parallelklassen gibt. SPD, Grüne, Linke und Piraten wollen auch kleinere Gesamtschulen erlauben.
Der neue Schultyp ist aus CDU- und FDP-Sicht ein großer Erfolg. Oberschulen können mit oder ohne Gymnasialangebot geführt werden. Auch SPD, Grüne und Piraten wollen die Oberschule erhalten, wo Eltern und kommunale Schulträger das wünschen. Die Grünen fordern aber, dass jede Schule einen Weg zum Abitur offenhalten muss.
Alle Parteien sind für den Ausbau. Die CDU setzt vor allem auf den teilgebundenen Ganztag mit verpflichtenden Angeboten an zwei Nachmittagen. Die SPD will nach und nach alle Schulen zu gebundenen Ganztagsschulen ausbauen und ist sich dabei mit den Grünen und den Linken einig. Die FDP will den gebundenen Ganztag vom Willen der Eltern, Schüler und Lehrer abhängig machen.
Ab August 2013 gibt es den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz. SPD, Grüne und Linke werfen den CDU und FDP vor, nicht genug Tempo beim Krippenausbau zu machen. Sie befürchten in einigen Regionen eine Klagewelle gegen die Kommunen. Derzeit ist das dritte Kindergartenjahr kostenlos. Piraten und Linke fordern beitragsfreie Kitas.
Unterstützung bekommt Niebel vom Vorsitzenden des Liberalen Mittelstands: „Die FDP ist die Partei der Marktwirtschaft und der Effizienz – und drei Prozent sind nicht effizient“, kritisiert Thomas Kemmerich. Eine neue Führung müsse her. „Rösler muss selbst erkennen: Ich bin im Moment außer Form, also wechsle ich mich aus. Das verlange ich im Unternehmen, das muss ich auch in meiner Partei verlangen“, sagt der Inhaber einer Kette von Friseursalons. Das sage nichts über Röslers menschliche Qualitäten, nur für die Führung einer Partei reiche es eben nicht. Kemmerich: „Das ist das alte Peter-Prinzip: Die Leute werden bis auf ein Niveau hochgetragen, auf dem sie nicht mehr richtig eingesetzt sind.“
Intern haben die Frondeure alles organisiert. Sollte Rösler nicht freiwillig aufgeben, sei Brüderle sogar zu einer Kampfkandidatur bereit. Da der allseits gewünschte Nachfolger an der Parteispitze nicht wieder ins Wirtschaftsministerium zurückkehren kann, soll der Unternehmer und Ex-DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun das für die FDP so wichtige Ressort übernehmen. Freilich zittern die Verschwörer, ob Braun bei seiner Bereitschaft bleibt, nachdem die Absprache bekannt geworden ist. Er selbst möchte sich zu den „Gerüchten“ nicht äußern. Sogar an Details haben die Rösler-Gegner gedacht. So klärten sie vor der Verpflichtung des neuen Parteisprechers zum Jahreswechsel, ob der auch unter dem Vorsitzenden Brüderle weiterarbeiten könnte.
Beim Dreikönigsball der Liberalen in Stuttgart, am Vorabend der denkwürdigen Kundgebung, trat ein Joe-Cocker-Double auf. Die Gäste konnten Karten für den Auftritt des Originals gewinnen.
Bei der Niedersachsenwahl verhält es sich mit Rösler und Brüderle ganz ähnlich.
Projekt Menschwerdung
Wenn es ganz schlimm kommt, dann könnte Peer Steinbrück immer noch vor die Tür treten und Wilhelmine tätscheln. Pferde sollen ja eine beruhigende Wirkung auf das Nervenkostüm haben. Die kleine Ponystute mit dem großen Namen grast im Streichelzoo neben dem Inselhotel Hermannswerder. Wilhelmine und Esel Fritz gehören zum Wohlfühl-Paket des Vier-Sterne-Hauses für gestresste Großstädter. Und gestresst könnten die Gäste tatsächlich sein, die sich für den 27. und 28. Januar eingemietet haben: Vor den Toren Berlins trifft sich die SPD-Spitze zur Klausur.
Die Tagungsräume mit Blick auf den Templiner See sind schon gebucht, und auch Steinbrück hat seine Einladung längst erhalten. Schließlich geht es um nichts weniger als seine Zukunft: Am Wochenende nach der Niedersachsen-Wahl will der Parteivorstand seine Strategie für 2013 festzurren. Vertraut man den letzten Umfragen, ist die Lage denkbar knapp: Reicht es in Hannover für einen rot-grünen Wahlerfolg, dann werden die Sozialdemokraten das als Signal für die Bundestagswahl bejubeln. Reicht es nicht, dann droht auf Hermannswerder ein echter Krisengipfel.
Steinbrück selbst war es, der die Abstimmung in Niedersachsen zum ersten Test für seine Kanzlerkandidatur erklärt hatte. Eine Strategie, die sich bitter rächen könnte, stolperte er doch nach seiner Nominierung von einem Fettnäpfchen ins andere. Wenn die Deutschen den Kanzler direkt wählen könnten, gäben nur noch 22 Prozent dem SPD-Mann ihre Stimme. Vor Weihnachten waren es noch vier Punkte mehr gewesen. Vor Weihnachten allerdings hatte Steinbrück sich noch nicht über das mickrige Kanzlergehalt und den Frauenbonus der Amtsinhaberin mokiert, vor Weihnachten musste er sich noch nicht gegen Vorwürfe wehren, er habe im ThyssenKrupp-Aufsichtsrat Unterstützung für niedrigere Strompreise versprochen. Vor Weihnachten stellten Sozialdemokraten lediglich fest, ihr Kandidat stecke tief im Schlamassel. Heute benutzen sie meist ein anderes Wort, das mit „Sch“ beginnt.
Vermutlich hat Stephan Weil die eigene Ungeduld schon oft verflucht. Der niedersächsische Spitzenkandidat hatte die Bundes-SPD im vergangenen Jahr gedrängt, ihren Kanzlerkandidaten möglichst schnell zu nominieren. Er hoffte auf etwas Rückenwind und darauf, dass die Berliner Prominenz auf seine eigenen farblosen Auftritte abstrahlen könne. Inzwischen muss Weil, der seine trockene Seriosität zum Markenzeichen ausgebaut hat, vor Journalisten beständig beteuern, die Steinbrück-Debatte habe „keine Bremsspuren“ hinterlassen. Die Strategie sei jetzt eher, eine „Firewall“ um Niedersachsen zu errichten, sagt ein Vertrauter. Oder kurz: irgendwie zu suggerieren, dass man mit denen in Berlin doch nicht ganz so viel zu tun hat.
Niedersächsische Polit-Prominenz
Der ehemalige SPD-Politiker war von 1990 bis 1998 Ministerpräsident in Niedersachsen und von 1998 bis 2005 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem Ende seiner politischen Karriere hat er als Lobbyist und Rechtsanwalt verschiedene Positionen inne. Unter anderem ist er Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Christian Wulff war von 2003 bis 2010 niedersächsischer Ministerpräsident. Im Juni 2010 wurde er zum zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Dieses Amt bekleidete er bis Anfang 2012. Er traf zurück, nachdem gleich mehrere Affären (Ungereimtheiten beim Hauskredit, Drohanruf bei der "Bild"-Zeitung) das Amt beschädigten.
Von 1990 bis 1994 war der Grünen-Politiker und gebürtige Bremer niedersächsischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Kabinett Schröder, von 1998 bis 2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Seit 2009 ist er Fraktionsvorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen und einer der Spitzenkandidaten der Bundestagswahl 2013.
Nur etwa ein Jahr nach Gerhard Schröders Wahl zum Bundeskanzler, wurde Sigmar Gabriel Ministerpräsident von Niedersachsen. Das Amt hatte der SPD-Politiker bis 2003 inne. Von 2005 bis 2009 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Seit 2009 ist er Parteivorsitzender der SPD.
2003 wurde Von der Leyen Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit im Kabinett Wulff. Bis 2005 saß sie im niedersächsischen Landtag. Seit 2005 ist sie unter Kanzlerin Merkel Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Im Jahr 2000 wurde Rösler nach einigen Jahren bei den Jungen Liberalen Generalsekretär der FDP in Niedersachsen. Im Februar 2009 wurde er Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie stellvertretender Ministerpräsident von Niedersachsen im Kabinett Wulff. Im Herbst 2009 wechselte er nach Berlin. Knapp zwei Jahre lang war Rösler Bundesminister für Gesundheit, im Mai 2011 wurde er zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ernannt und gleichzeitig zum deutschen Vizekanzler. Rösler ist zudem Bundesvorsitzender der FDP.
In der Zeit des Nationalsozialismus war er Mitglied der SPD und unterstützte seine Parteigenossen. Dafür wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, anschließend verbrachte er mehrere Monate im KZ Esterwegen. 1948–1949 war er als Mitglied des verfassunggebenden Organs, dem Parlamentarischen Rat, an der Gestaltung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beteiligt und ist so als einer der "Väter der Grundgesetzes" bekannt. Von 1952 bis 1955 hatte Diederichs maßgeblichen Einfluss auf die Neugestaltung der niedersächsischen Gemeindeverfassung. 1957 wurde er Sozialminister von Niedersachsen, von 1962 bis 1970 Ministerpräsident. Diederichs starb am 19. Juni 1983.
Bei der Abschlusskundgebung in der Stadthalle Braunschweig werden sie am Freitag dennoch alle auf der Bühne stehen: Steinbrück, Weil, Parteichef Sigmar Gabriel und Bundestags-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Es soll ein Signal der Geschlossenheit sein. Allerdings muss die SPD sich inzwischen nicht nur hinter Weil stellen, sondern auch hinter Steinbrück.
Der Kanzlerkandidat arbeitet derweil weiter an seiner Menschwerdung. Am vergangenen Dienstag erst hatte das „Handelsblatt“ angedeutet, Steinbrück habe sich als ThyssenKrupp-Aufsichtsrat zum Büttel der Großindustrie gemacht. Noch am selben Tag schoben Mitarbeiter kurzfristig einen neuen Termin in seinen Kalender: einen Besuch in einem Mütterzentrum am Folgetag. Etwas Nähe zum Wähler kann ja nicht schaden. Eine sozialpolitische Empathievermutung auch nicht.
Sehnsucht nach Inhalten
Falls die SPD in Niedersachsen gewinnt, könnte man endlich wieder über Inhalte reden – statt über Steinbrücks Missgeschicke, hoffen die Wahlkampfplaner. Passend dazu hat die Partei nun ein Konzept gegen Mietpreiserhöhungen vorgelegt und vorgeschlagen, das Kindergeld neu zu verteilen: Normalverdiener sollen profitieren, die Einsparungen erbringen die Besserverdienenden. So will sich die SPD ihrer Klientel wieder als Partei der Gerechtigkeit empfehlen.
Gelingt der Regierungswechsel in Niedersachsen aber nicht, muss Steinbrück sich kritische Fragen gefallen lassen. Die SPD-Linke haderte von Anfang an mit ihm. „Partei und Spitzenkandidat müssen sich besser koordinieren. Die Kür des Spitzenkandidaten kam im vergangenen Herbst ja etwas überstürzt“, sagt etwa Klaus Barthel, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA). Dass es nach der Niedersachsen-Wahl eine ernsthafte Debatte über den Spitzenkandidat gibt, kann er sich aber nicht vorstellen. Da hält er sich an die offizielle Parteilinie: Es seien die Medien, die sich auf Steinbrück einschössen – und die SPD müsse lernen, damit umzugehen. „Es spricht für unsere Professionalität, dass es keine Kandidatendebatte in der Partei gibt“, sagt Barthel.
Ob Steinbrück aber von sich aus entnervt aufgeben könnte? Er selbst sagt dazu: „Niemand macht sich hier vom Acker.“ Ein Kanzlerkandidat, der vor der Wahl hinschmeißt, wäre ein Desaster. „Völlig unvorstellbar“, sagen alle Sozialdemokraten.
„Völlig unvorstellbar“ war bislang allerdings auch, dass ein Kanzlerkandidat einen derartigen Fehlstart hinlegt.