Merkels Flüchtlingspolitik Gut gebrüllt, Löwin!

Die Kanzlerin zieht ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik eisenhart durch. Dabei ist ihre Standhaftigkeit reine Augenwischerei und Teil einer Strategie. Sie verlagert das Problem einfach weiter gen Süden. Ein Kommentar.

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Angela Merkel (CDU) lässt sich für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren. Die Bundeskanzlerin baut zwei Obergrenzen auf, meint unser Kommentar. Quelle: dpa

Berlin Im Handelsblatt vom Freitag redet Alt-Kanzler Gerhard Schröder Tacheles: „Die Kapazitäten bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen in Deutschland sind begrenzt. Alles andere ist eine Illusion.“ Adressat dieser Schelte ist natürlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, der mittlerweile selbst enge Parteifreunde und bisherige Unterstützer in der Fraktion eine illusionäre Flüchtlingspolitik vorwerfen und diese Vorwürfe sogar in eine Unterschriftenaktion münden lassen. Bislang aber, so der Eindruck, bleibt Merkel hart, ja eisern auf ihrer eigenen Linie. Das hat Gründe.

Merkel ist so eisern, wie es sonst nur Reichskanzler Otto von Bismarck war. Zumindest soll es so scheinen: „Es wird keine Obergrenzen geben!“ versichert sie. Gut gebrüllt, Löwin! Aber eigentlich kann sie gar nicht anders, will sie ihrer Flüchtlings-Doktrin: „Wir schaffen das!“ nicht selber den Odem abdrehen. Obergrenzen erfordern funktionierende Schlagbäume.

Tatsächlich ist die scheinbar so eiserne Standhaftigkeit reine Augenwischerei. Denn zentraler Bestandteil des milliardenschweren Flüchtling-Deals mit der Türkei ist die Verhinderung weiteren Zuzugs von Kriegsflüchtlingen über die Türkei. Man nennt das Begrenzung der Zuwanderung.

Es sei dahingestellt, ob dadurch nicht etliche verbriefte Rechtsgarantien von Flüchtlingen – wie das Recht auf Asyl – tangiert beziehungsweise außer Kraft gesetzt werden. Das hat in der Wirklichkeit jedenfalls schon böse Folgen, wie jetzt bekannt wird: Die Türkei schiebt die Flüchtlinge einfach in die syrischen Kriegsgebiete ab, also zurück zum lebensbedrohenden Ausgangspunkt ihrer Flucht.

Fest steht auf jeden Fall auch: In der Türkei und in anderen Fällen wirkt die Bundesregierung selbstredend auf die Festlegung von prophylaktischen Obergrenzen hin. Man kann es auch so formulieren: Durch das Abdrängen der Flüchtlinge beziehungsweise der Asylbewerber sollen solche Obergrenzen in Deutschland selbst überflüssig gemacht werden – sie sollen sie, praktisch gesehen, ersetzen.

Das kann man wollen, das kann man umsetzen, das kann man sich erkaufen, aber das darf man der politischen Redlichkeit halber nicht verschweigen. Einerseits ist ein solches Eingeständnis natürlich peinlich, offenbart es doch eine gewisse Doppelzüngigkeit.

Andererseits aber wäre dieses sich ehrlich Machen gerade angesichts der steigenden Zahl der erbitterten Merkel-Gegner notwendig. Den rechten Fundamentalisten muss man konkrete Wahrheiten einschenken, will man sie nicht weiter fahrlässig radikalisieren.


Konturen einer Zangenstrategie unter deutscher Führung

Die Bundesregierung müsste sich also zu dieser ihrer vermeintlichen Trumpfkarte bekennen, selbst wenn sie damit gleichzeitig diesen Taschenspielertrick offen legen müsste. Denn sie bricht im Fall der Syrien-Flüchtlinge einerseits das Dubliner Abkommen, wonach die Flüchtlinge ihren Asylantrag nur in dem Land stellen dürften, wo sie den Boden der EU betreten. In Deutschland aber, das wissen wir, ist dies kaum möglich, es sei denn man kommt per Flugzeug eingeschwebt, was kein normaler Flüchtling schafft.

Andererseits verlagert sie das Problem wieder einmal zurück in den Süden, in die Peripherie nämlich: nach Österreich, Italien, Slowenien, Kroatien und Griechenland. Kein Wunder, dass diese Staaten den deutschen Drang gen Süden skeptisch bis ablehnend betrachten. Kein Wunder also, dass jetzt Österreich von den Deutschen personelle Unterstützung der Grenzsicherung in den Südstaaten Europas fordert. Das natürlich völlig zu Recht: Österreich steht ähnlich wie Deutschland wegen der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen unter Druck. Das Alpenland bekommt das striktere Vorgehen der deutschen Behörden zu spüren, die zuletzt wieder verstärkt Flüchtlinge nach Österreich zurückgeschoben haben. Österreich hat deshalb gerade angekündigt, dass diese Domino-Strategie weiterreichen wird: Es wird seinerseits die Flüchtlinge verstärkt nach Süden abschieben.

Hier zeigen sich in nucleo die Konturen einer künftigen europäischen Strategie unter deutscher Führung zur Beherrschung des Flüchtlingsandrangs. Es ist eine Art Zangenstrategie: Flüchtlingsbewegungen sollen einerseits von der Türkei in der Türkei gestoppt werden (in der Realität von der Türkei fern gehalten werden) und Flüchtlinge mit wenig Aussichten auf Asyl schnellstmöglich gen Süden zurückgeschickt werden. Das wäre dann eine eiserne Flüchtlingspolitik ganz nach Angela Merkels Vorstellungen ohne Obergrenzen. In Wahrheit aber ist es eine Flüchtlingspolitik mit gleich zwei Obergrenzen, einer absoluten in der Türkei und einer relativen in Europa.

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