Als Olaf Buchholz vor gut zwei Jahren das erste Mal vom Mindestlohn hört, geht der Bäckermeister an seinen Schreibtisch, nimmt Platz und beginnt, das Unvermeidliche zu berechnen. Von seinen 41 Beschäftigten arbeiten 14 in der Backstube. Nur zwei von ihnen bekommen bereits ein Gehalt, das über 8,50 Euro liegt. Dazu kommen 25 Verkäuferinnen, die hinter den Tresen stehen, und zwei Fahrer, die Waren zum Kunden bringen. Auch sie alle verdienen weniger als 8,50 Euro. Olaf Buchholz atmet durch. Er durchkämmt Stundenlöhne und Arbeitszeiten, vergleicht, multipliziert, checkt Einkaufspreise und Rechnungen. Zahlen über Zahlen füllt er in seinen Computer. Dann erscheint am Bildschirm ein Resultat, das er befürchtet hat: 20 Prozent. Er muss schlucken. Ein sattes Fünftel mehr soll er für sein Personal aufbringen, sobald der Mindestlohn kommt. Quasi über Nacht. "Da", erinnert sich der Bäcker, "habe ich erst mal Bauchschmerzen bekommen."
Heute steht Buchholz in seiner Backstube in Beuster, Sachsen-Anhalt. Er redet auf eine Auszubildende ein. Es geht um Mehltypen und Teigkonsistenz. Um den Unterschied also zwischen Massenbrei und liebevollem Handwerk. In der Nacht haben sie 1000 Brote, etliche Bleche Kuchen und 5000 Brötchen aus den Öfen gezogen. Neben dem Warenausgang stapeln sich Bleche und Bäckerkisten. Die Restwärme der Öfen erfüllt den Raum. Olaf Buchholz' Deichbäckerei lebt noch. Aber sie ist nicht mehr dieselbe.
Ginge es nach der Bundesregierung in Berlin oder nach führenden Gewerkschaftern, dürften die Sorgen und Nöte von Olaf Buchholz eigentlich gar nicht existieren. Der Mindestlohn, heißt es von dort immer wieder voller Überzeugung, sei eine "Erfolgsgeschichte". Punkt, Ende der Diskussion, Zwischentöne unerwünscht. Aber das ist anderthalb Jahre nach Inkrafttreten dieses wohl umstrittensten wirtschaftspolitischen Eingriffes der Nachkriegsgeschichte nicht die volle Wahrheit, sondern allenfalls eine halbe.
Es gibt ein Mindestlohnproblem. Keines, das die ganze Republik ins Wanken bringen würde, in der das Bruttoinlandsprodukt stabil wächst und der Arbeitsmarkt Rekordmeldung an Rekordmeldung reiht. Aber eben doch eines, das schmerzt. Auch wenn die Politiker in Berlin davon selten etwas mitbekommen. Man findet die Schwierigkeiten, das Kämpfen und Strecken all jener, die die neue Lohnuntergrenze einhalten müssen, vor allem dort, wo die Löhne zuvor besonders niedrig waren und der gesetzlich vorgegebene Sog nach oben deshalb am stärksten ist: in Ostdeutschland.
Die 8,50 Euro zu Beginn des Jahres 2015 waren für weite Teile des Westens verkraftbar, in vielen Landstrichen im Osten jedoch waren sie schon sehr viel Geld, manchmal zu viel. Am heutigen Dienstag nun hat die eigens von der Bundesregierung berufene Mindestlohnkommission, in der Vertreter der Sozialpartner und Ökonomen sitzen, verkündet, welche Erhöhung sie ab 2017 für angemessen hält. 8,84 Euro werden es ab Januar des kommenden Jahres sein, ein Plus von vier Prozent. Bundesweit. Das klingt zunächst nicht schlimm. „Eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung“, meint auch der Kommissions-Vorsitzende Jan Zilius. Doch für viele Unternehmen im Osten wird diese 34-Cent-Entscheidung eine ökonomische Wende markieren: den Tag, an dem es endgültig abwärtsging.
In Olaf Buchholz' Büro, dort, wo er ausrechnete, wie viel ihn der Mindestlohn kosten wird, hängen drei Fotos an der Wand. Sie zeigen seine Backstube in Beuster direkt an der Grenze zu Brandenburg - einmal 1992, dann 2006, zuletzt im vergangenen Jahr. Auf den Bildern wächst die Backstube, mit jedem Abzug sieht sie moderner aus, man sieht die Investitionen, den ganzen Unternehmerstolz. Die Bilder erzählen von Aufschwung. Sie erfassen nur nicht die ganze Geschichte.