
WirtschaftsWoche: Herr Professor Fehr, Sie gelten in der Ökonomenzunft als eine Art Multitalent. Anders als viele Ihrer Kollegen forschen Sie auch auf den Gebieten der Psychologie, Anthropologie und Biologie. Was hat Sie dazu bewogen, das Areal der Ökonomie zu verlassen?
Fehr: Ich war schon als Student überzeugt, dass die Ökonomie wichtige Dinge falsch einschätzt, weil sie zu restriktive Annahmen über das Verhalten der Menschen trifft. Sie unterstellt zum Beispiel, dass alle Menschen immer eigennützig handeln. Ich halte das für unrealistisch. Es hat gedauert, mein Unbehagen in produktive Forschung umzusetzen. Denn man braucht schlüssige und solide empirische Fakten, wenn man die traditionellen Annahmen der Ökonomie in Frage stellt. Diese Fakten hat uns zuerst die experimentelle Wirtschaftsforschung geliefert. Laborexperimente haben gezeigt, dass das Korsett der Annahmen, mit denen die Wirtschaftswissenschaft arbeitet, zu eng ist. Diese Erkenntnisse werden nun auch zunehmend von Felddaten und Feldexperimenten gestützt.
Welche Erkenntnisse haben die anderen Wissenschaftsdisziplinen gebracht?
Am produktivsten für meine Arbeit war die Psychologie. Sie zeigt, dass viele Verhaltensweisen von Menschen nicht vollständig rational sind. Das reicht von der Selbstüberschätzung über die verzerrte Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeiten bis hin zur Verzerrung von Entscheidungen durch emotionale Einflüsse. Mittlerweile haben diese Erkenntnisse auch Eingang in den mainstream der ökonomischen Forschung gefunden.
Sie stellen das traditionelle Leitbild des homo oeconomicus in Frage. Wollen Sie die Wirtschaftstheorie neu schreiben?
Ich sage nicht, dass sie völlig neu geschrieben werden muss. Aber wir müssen sie mit offeneren Augen betrachten. Die traditionelle Annahme egoistischen Verhaltens hat sich häufig als falsch erwiesen und zu fehlerhaften Prognosen geführt. Ähnliches gilt für die Annahme völlig rationalen Verhaltens. Es gibt Ökonomen, die diese strikten Annahmen verteidigen. Aber ich glaube, die Zeit wird über sie hinweg gehen. Es wird immer mehr zum Standardwerkzeug der Ökonomie, auch nicht-rationales Verhalten zu berücksichtigen. Wann rationales und wann nicht-rationales Verhalten vorliegt, ist letztlich eine empirisch zu klärende Frage. Das kann man nicht einfach als Annahme festlegen.
Die Traditionalisten kritisieren, Ihnen mangele es an einer übergreifenden, konsistenten Theorie.
Für beschränkt rationales Verhaltens gibt es in der Tat noch keine übergreifende Theorie. Aber das liegt daran, dass die Empirie widerspenstig ist. Es wird kompliziert, wenn wir die einfache Optimierungsannahme fallen lassen und nicht mehr unterstellen, dass die Menschen nur ihren Eigennutzen maximieren. Dann bewegen wir uns auf schwankendem Grund. Aber die traditionelle Wirtschaftsforschung hat uns für diese empirischen Befunde bisher keine Antworten geliefert. Vielleicht wird es nie eine in sich geschlossene Theorie für nicht-rationales Verhalten geben. Trotzdem müssen wir dieses berücksichtigen, wenn wir die Welt erklären wollen.