ÖPNV-Streit Das Statistik-Rätsel um das Neun-Euro-Ticket

Quelle: imago images

Wie viel Verkehr hat das Neun-Euro-Ticket auf die Schiene verlagert? Dazu gibt es widersprüchliche Studien und Befragungen, deren Ergebnisse sich plötzlich änderten. Die Ampel streitet in Meseberg auf einer Grundlage: Ungewissheit.

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Anna-Theresa Korbutt scheint ihren Kampf gegen die Zahlen am Ende doch noch zu gewinnen. Die Geschäftsführerin des Hamburger Verkehrsverbunds postete in den vergangenen Wochen immer wieder wütende Aufrufe auf LinkedIn, wie ein Mantra wiederholte sie: „So kann man das alles nicht stehen lassen!“ Es ging der Verkehrsexpertin dabei um das Neun-Euro-Ticket – und um einen in ihren Augen querlaufenden politischen Streit, der auch noch auf falschen Daten beruhe.

Dabei schien die Erzählung bis vor Kurzem klar: Das günstige Neun-Euro-Ticket führe kaum dazu, dass Menschen ihre Autos stehen ließen. Zwar gebe es einen enormen Anstieg im öffentlichen Verkehr, hieß es. Dieser lasse sich aber durch zusätzliche Fahrten erklären, die ohne Ticket gar nicht zustande gekommen wären. Ein Plus für die Umwelt oder gar ein Umdenken in der Bevölkerung? Kaum auszumachen.

Geht es jetzt um die Nachfolge des Tickets, streiten die Ampel-Koalitionäre noch immer auf dieser Grundlage – auch bei ihrer aktuellen Klausurtagung in Meseberg steht das Thema weit oben auf der Agenda. Die Grünen sind sauer auf das Verkehrsministerium, weil Minister Volker Wissing (FDP) autofahrerfreundlich und klimaignorant agiere. Auch der SPD geht offenbar alles zu langsam, sie hat in Eigenregie Pläne für ein 49-Euro-Ticket präsentiert. Fünfzig Prozent der Kosten soll der Bund tragen, fünfzig die Länder. Das gibt Zustimmung bei den Grünen. Und die FDP? Kritisiert vor allem den Preis, moniert die „Gratismentalität“ und zweifelt an der tatsächlichen Wirkung eines deutschlandweiten Tickets für die Verkehrswende.

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Letzterer Punkt ist für Expertinnen wie Korbutt allerdings Unsinn: „Wir kommen in Hamburg zu völlig anderen Ergebnissen“, sagt sie in Anbetracht der Zahlen. Verbreitete Statistiken, so erklärt sie, würden die Rolle von neu entstandenem Verkehr massiv überschätzen, Daten seien in Erhebungen der Verkehrsverbünde falsch gewichtet worden und der erhobene Personenkreis sowieso nicht repräsentativ. Etwa, weil das Verhältnis Abo- und Einzelfahrende nicht stimme. Frei nach dem Motto: Vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.

So viel Druck haben Korbutt und andere Verkehrsexpertinnen offenbar öffentlich aufgebaut, dass der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) seine Einschätzung gerade tatsächlich korrigiert hat. Anfang Juli hieß es in einer ersten Zwischenbilanz noch: Nachfrage, Bekanntheit und Attraktivität des Neun‐Euro‐Tickets seien ungebrochen hoch, „wir verzeichnen überall vollere Busse und Bahnen“. Dabei seien „sechs Prozent der Fahrten“ ohne das Neun‐Euro‐Ticket mit einem anderen Verkehrsmittel außerhalb des ÖPNV unternommen worden, davon „gut die Hälfte mit dem Auto“, sagte VDV‐Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff. Ergo: Das Neun-Euro-Ticket könne lediglich rund drei Prozent Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene erklären. So die Einschätzung damals.

Inzwischen kommt der VDV aber zu ganz anderen, deutlich positiveren Verlagerungsergebnissen. Anfang der Woche schwärmte der Schienen-Lobbyverband auf einmal von dem Flatrate-Ticket im Nahverkehr. „Zehn Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket haben eine Fahrt ersetzt, die sonst mit dem Pkw unternommen worden wäre“, heißt es in einer Pressemitteilung. Und VDV-Chef Wolff lässt sich mit den Worten zitieren: „Drei Monate Neun-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde.“

Aber was stimmt denn nun: drei oder zehn Prozent?

Nachgefragt beim VDV erklärt der Verband die unterschiedlichen Ergebnisse im Juli und August mit einer „textlichen Schärfung der Antwortvorgaben“. Immerhin 6000 Leute ließ der VDV vom Marktforschungsinstitut Forsa bundesweit befragen - pro Woche. In den Befragungen im Juni hatte Forsa die Teilnehmer noch nach ihrer letzten Neun-Euro-Ticket-Fahrt so gefragt: „Hätten Sie diese Fahrt auch ohne das Neun-Euro-Ticket unternommen?“. Die Antwortmöglichkeiten lauteten: „Ja“, „Nein“, „Weiß nicht/keine Angabe“. Aus dieser und einer Gewichtung der anderen Fragen wurde dann das Ergebnis zur Verkehrsverlagerung kalibriert: drei Prozent weniger Autos.

Danach seien die Antwortkategorien „geschärft“ worden, heißt es beim VDV. Teilnehmer konnten in den wöchentlichen Befragungen ab Juli wählen zwischen vier Antwortmöglichkeiten: „Ja, hätte die Fahrt ebenfalls mit dem ÖPNV unternommen, nur mit einem anderen Ticket“, „Ja, hätte die Fahrt auch unternommen, aber mit einem anderen Verkehrsmittel (z.B. Auto, Fernverkehrszug, Fernlinienbus, Flugzeug, Fahrrad) oder zu Fuß, „Nein, ich hätte diese Fahrt gar nicht unternommen“ und: „Weiß nicht/keine Angabe“. Im Nachgang an die Frage wurde noch konkreter nach dem Alternativ-Verkehrsmittel gefragt, das der Teilnehmer ohne ein 9-Euro-Ticket genutzt hätte: Auto, ICE, Fahrrad oder andere? So ergab sich eine Verkehrsverlagerung von zehn Prozent.



Die angepasste Befragung würde also durchaus Hinweise auf kräftigere Verlagerungstendenzen geben. „Die Verkehrsverbünde haben schlicht eingesehen, dass ihr anfänglicher Widerstand gegen das Ticket Blödsinn war, deswegen gibt es jetzt diesen Wechsel“, sagt ein Insider. „Vor allem gab es die Sorge, das Ticket könne aus überlebenswichtigen Subventionen für den ÖPNV bezahlt werden.“ Jetzt scheine es aber einen Paradigmenwechsel gegeben zu haben. Gleichwohl gibt es durchaus auch Studien, die noch immer zu einem anderen Fazit kommen.

So hatte auch das Statistische Bundesamt die Mobilität der Menschen vermessen – und zwar bereits für den Monat Juni. Das Reiseaufkommen im Schienenverkehr habe sich seit Anfang Juni „deutlich erhöht“, schrieben die Statistiker damals. Dies gehe aus einer Sonderauswertung von Mobilfunkdaten hervor. Im Juni 2022 hätten die bundesweiten Bewegungen im Schienenverkehr „im Schnitt 42 Prozent höher“ gelegen als im Juni 2019. Die Daten umfassten Bahnreisen ab 30 Kilometern zurückgelegter Distanz. Gleichzeitig zeigten sie auch, dass im Straßenverkehr seit Einführung des Neun-Euro-Tickets nur „ein moderater Rückgang zu verzeichnen“ war. Ergo: Das Ticket hat zum Fahren im Nahverkehr animiert, aber kaum Leute von der Straße abgezogen.

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Wie genau die Lage einzuschätzen ist, wird auch die Debatte um eine Nachfolgeregelung in Meseberg bestimmen. HVV-Chefin Korbutt hat dazu jedenfalls eine klare Meinung: „Wenn das Thema Verkehrswende und Verlagerung auf den ÖPNV weiter vorangetrieben werden soll, dann sollte das Ticket unter 50 Euro liegen“, sagt die Verkehrsexpertin. Alles darüber führe zu einem deutlichen Abfall der Kaufbereitschaft und damit des Effekts sowohl fürs Klima als auch für den Umstieg auf Bahn und Bus. Das werden SPD und Grüne durchaus gerne hören. Korbutt sagt aber auch: „Das darf nicht zu einer Unterfinanzierung des ÖPNV führen.“ Das wird die FDP ungern hören.

Menschen in ländlichen und strukturschwachen Gebieten hätten aufgrund des mangelnden Verkehrsangebots ohnehin deutlich weniger Gebrauch vom 9-Euro-Ticket machen können, argumentiert der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Bernd Reuther.  Das „Billigticket“ habe zwar gezeigt, wie attraktiv einfache Lösungen seien, und dass Ticketstrukturen vereinfacht werden müssten. Allerdings seien hier vor allem die Länder in der Pflicht. „Eine direkte Weiterfinanzierung, die den Bund Milliarden kostet, kann es nicht geben“, sagt Reuther. Das klingt nach neuem Kampf gegen die Zahlen, diesmal innerhalb der Koalition.

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