Philosoph Konrad Paul Liessmann "Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter"

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"Das System der Credit Points ist unsinnig"

Zum Beispiel?

Es verändert das Bewusstsein. Als ich als Student an die Universität kam, habe ich aufgeatmet: Freiheit! Ich habe mich auch sofort ernst genommen gefühlt als Mitglied einer neugierigen, forschenden, diskutierenden Gemeinschaft. Aber wenn man als Kunde behandelt wird, lehnt man sich zurück und sagt: Was habt ihr mir zu bieten? Und die Studenten sind enttäuscht, weil sie nicht mehr wissen, was es heißt, Student zu sein.

Also weg mit dem Wettbewerb?

Wettstreit gab es immer in der Wissenschaft. Sich gegenseitig zu kritisieren, ist die authentische Form akademischen Wettbewerbs. Aber eben nicht das Zählen von Aufsätzen in bestimmten Journals mit bestimmtem Impact Factor. Ludwig Wittgenstein, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat überhaupt nur ein Buch veröffentlicht. Der hätte heute keine Chance.

Ihre Bücher sind Bestseller, werden in den Medien diskutiert. Gibt es darauf aus der Bildungspolitik Reaktionen?

Meine kritischen Überlegungen werden wohl wahr-, aber vielleicht nicht wirklich ernst genommen. Mit dem früheren österreichischen Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle, einem Altphilologen, bin ich befreundet. Er stimmte mir zu, dass das System der Credit-Points für Studenten unsinnig ist. Aber er könne halt nichts machen, sagte er, da es einen europaweiten Konsens dafür gebe. Bei anderen habe ich den Eindruck, die verfolgen ein bildungspolitisches Programm, das oft parteiideologisch geprägt ist. Auf kritische Fragen lässt man sich nicht ein. Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister Mathias Brodkorb mit seiner Skepsis gegen die Kompetenzorientierung ist eine positive Ausnahme.  

Nehmen wir mal an, ein Bundeskanzler käme auf die Idee, Sie zum Minister zu machen…

... was ich gar nicht sein will...

...oder Sie könnten hinter den Kulissen die Bildungspolitik bestimmen, was wäre zu tun?

Die Bologna-Reformen an den Universitäten so weit wie möglich rückgängig machen! Vor allem das europäische Credit-Points-System ECTS und die Modularisierung der Lehrveranstaltungen würde ich abschaffen beziehungsweise lockern. Das hat zu einer völligen Verwilderung der Studienfächer geführt. Ich würde die Kompetenzorientierung aus den Schullehrplänen streichen und zu einem an Inhalten orientierten Unterricht zurückkehren. Und an den Grundschulen zu einer Didaktik, mit der die Kinder wirklich Lesen und Schreiben lernen.

Viele Bildungsforscher und -politiker halten Sie vermutlich für einen Reaktionär.

Die modischen Methoden kritisch unter die Lupe zu nehmen, heißt nicht, den Rohrstock wieder einzuführen. Als ob die einzige Alternative die Schule des 19. Jahrhunderts wäre! Es muss doch ein Unterricht möglich sein, in dem Grundschüler auf freundliche und sanfte Art darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie ein Wort falsch geschrieben haben. Es gibt ein Maß an scheinbarer Kinderfreundlichkeit, die eigentlich eine Kinderfeindlichkeit ist, weil sie die Kinder um Chancen betrügt. Und wenn Reformen das Gegenteil des Intendierten hervorbringen, dann ist ein Rückbau nicht reaktionär, sondern ein Gebot der Klugheit. Niemand, der sein Auto in eine Sackgasse manövriert, hält Umdrehen für reaktionär!

Viele Eltern fürchten nicht so sehr die verpassten Bildungschancen ihrer Kinder, sondern wollen vor allem, dass die Kinder gute Chancen fürs Berufsleben haben.

Die Grundlagen für eine gute Bildung sind, glaube ich, auch gute Grundlagen dafür, in der Arbeitswelt nicht unterzugehen. Die Idee einer qualifizierenden Berufsausbildung und die einer humanistischen Bildung schließen sich nicht aus. Das hat schon Humboldt so gesehen. Die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Welt ist nicht ein eigener Bildungsweg im Gegensatz zu beruflicher Ausbildung. Bildung geht, wie Humboldt sagt, auch jeden Schuster an.

Was ist denn der wesentliche Unterschied zwischen Ausbildung und Bildung?

Der Philosoph Peter Bieri hat das so beschrieben: Ausbilden können uns andere, mit dem Ziel etwas zu können. Bilden kann ich mich letztlich nur selbst, mit dem Ziel zu erkennen, wie ich in der Welt stehe. Menschen, die nur ausgebildet werden und sich nie mit etwas befassen können, werden um die Chance betrogen, Dinge und Menschen um ihrer selbst Willen wahrzunehmen und schätzen zu lernen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der alles und jeder ständig nur auf seinen Nutzen hinterfragt wird. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen im Museum sich fragen: Trägt dieses Bild zu meiner visuellen Kompetenz bei? Ich möchte, dass Menschen beeindruckt, erschüttert, berührt vor einem Rembrandt oder Van Gogh stehen und sich sagen: Wie wunderbar in einer Welt zu leben, in der etwas so Schönes und doch Irritierendes erschaffen wurde. Und es ist völlig egal, ob dieser Mensch Bauarbeiter, Informatiker oder Universitätsprofessor ist.

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