
Wenn etwas explodiert, sorgt das üblicherweise für Aufregung. Bei den Sozialausgaben des deutschen Staates scheint das nicht der Fall zu sein. Als Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB) kürzlich zum wiederholten Mal darauf hinwies, dass die Sozialausgaben in den Kommunen extrem ansteigen, gab es nur ein kaum wahrnehmbares Echo in Politik und Medien.
Offenbar kann man niemanden mehr damit schocken, dass zum Beispiel alleine die Unterbringung minderjähriger, unbegleiteter Zuwanderer nach einer aktuellen Schätzung des DStGB im Jahr 2017 bis zu 4,8 Milliarden Euro kosten wird. In der Buchhaltung der Kämmerer findet man diese Kosten bei der „Kinder- und Jugendhilfe“ verbucht, die von 2015 auf 2016 insgesamt um 20,3 Prozent auf 11,2 Milliarden Euro anstieg.
Dass die kommunalen Sozialausgaben „förmlich explodieren“, wie Landsberg sagt, ist nicht übertrieben. 2016 stiegen sie im Vergleich zum Vorjahr um 9,8 Prozent auf 59,3 Milliarden Euro. Mit 76,5 Prozent (+2,4 Milliarden Euro) war der Zuwachs der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz noch größer, sie erreichten 5,5 Milliarden Euro.
Natürlich sind die kommunalen Kosten nur ein Teil der Sozialkosten. Wie groß der deutsche Sozialstaat insgesamt ist, scheint niemand genau zu wissen. Die Statistik sei da ziemlich „zersplittert“ heißt es in der Pressestelle des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Vielleicht liegt das daran, dass es lieber niemand so genau wissen will.
Bei Destatis verweist man auf das „Sozialbudget“, das das Bundesministerium für Arbeit und Soziales alljährlich veröffentlicht. Es vermeldet für das Jahr 2015 einen neuen Rekord: 888,2 Milliarden Euro Sozialleistungen zahlten deutsche Behörden und Sozialversicherungen 2015 aus - finanziert zu rund einem Drittel von Arbeitgebern, Versicherten und vom Staat. Wichtiger als diese gigantische Zahl ist: die Sozialausgaben stiegen viel stärker als die Wirtschaftsleistung. Während die Sozialleistungsquote (Sozialleistungen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) nach einem gigantischen Anstieg in den Nachkriegsjahrzehnten im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts dank Agenda 2010 trotz schwachen Wirtschaftswachstums auf 26,8 Prozent zurückging, ist sie in jüngster Zeit trotz starken Wirtschaftswachstums wieder auf 29,4 Prozent angestiegen.





Für das Jahr 2016 ist mit einem noch viel stärkeren Anstieg der Quote zu rechnen. Der Hauptgrund ist bekannt: Der Zuzug von über einer Million Asylbewerbern und Flüchtlingen in der zweiten Hälfte 2015 und den ersten Monaten 2016. Auch die Zunahme der Quote im Jahr 2015 beruht überwiegend auf dem 169-prozentigen Anstieg der Empfänger von Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz: von 363.000 (2014) auf rund 975.000 (2015). Damit hat sich laut Destatis die Zahl der Leistungsbezieher seit 2010 (130.000) mehr als versiebenfacht. Die Ausgaben stiegen von 815 Millionen Euro (2010) auf 5,3 Milliarden Euro (2015).
Bremswirkung der Agenda ist schon aufgezehrt
Wie hoch die sozialen Kosten der Zuwanderung insgesamt sind und noch werden, kann man nur schätzen. Auch hier gilt: Vermutlich wollen es die politisch Verantwortlichen lieber gar nicht so genau wissen. Die Schätzungen, die existieren, kommen zumindest in der Regel nicht von staatlichen Stellen, sondern von unabhängigen Ökonomen. Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen warf der Bundesregierung schon vor, dass sie mehr über die erwartbaren Kosten wisse, als sie preisgebe. Er errechnete, dass pro Flüchtling dem deutschen Staat Kosten von 450.000 Euro entstehen – wohlgemerkt über dessen gesamte Lebenszeit in Deutschland.
Hans Werner Sinn hält die Rechnung noch für zu optimistisch, weil sie davon ausgeht, dass die jetzigen Asylbewerber so schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden können wie frühere Einwanderer.
Fazit: Die Zuwanderung von Hilfsempfängern hat die Entlastungswirkung des Arbeitsmarktbooms für den deutschen Sozialstaat bei weitem übertroffen. Zum Jahresende 2015 erhielten in Deutschland laut Destatis knapp 8,0 Millionen Menschen und damit 9,7 Prozent der Bevölkerung soziale Mindestsicherungsleistungen. Im Jahr zuvor hatten knapp 7,4 Millionen Menschen beziehungsweise 9,1 Prozent der Bevölkerung Mindestsicherung erhalten.
Die Hartz-Reformen
Die von dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung von Peter Hartz legte im August 2002 das Hartz-Konzept vor.
Die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes wurden vier Maßnahmen eingeteilt: Hartz I bis IV.
Das Erste Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat am 1. Januar 2003 in Kraft.
Ziel waren die Erleichterungen von neuen Formen der Arbeit und die Förderung der beruflichen Weiterbildung durch die Arbeitsagenturen. Hierfür wurden unter anderem Bildungsgutscheine verteilt. Zudem wurde ein Unterhaltsgeld, gezahlt durch die Arbeitsagentur eingeführt und die Einstellung von Zeitarbeitern erleichtert.
Auch die Zumutbarkeitsregelung wurde aufgeweicht. So mussten Arbeitslose ohne familiäre Bindung fortan ab dem vierten Monat der Arbeitslosigkeit bundesweit für Jobs zur Verfügung stehen.
Der Druck auf die Arbeitslosen wurde weiter erhöht, etwa durch eine Kürzung der Arbeitslosenhilfe und einer Meldepflicht für Arbeitslose. Demnach müssen sich Arbeitnehmer bereits mit Erhalt der Kündigung arbeitssuchend melden. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Absenkung des Arbeitslosengelds rechnen.
Das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat ebenfalls am 1. Januar 2003 in Kraft.
Hierbei ging es hauptsächlich um die Regelung der geringfügigen Beschäftigung – der sogenannten Mini- und Midijobs. Weitere Aspekte, die mit Hartz II entstanden, waren die Ich-AGs und die Einrichtung von Jobcentern.
Mit der Hartz-II-Reform wurde die Geringfügigkeitsschwelle für Mini-Jobs von 325 Euro auf 400 Euro im Monat erhöht (aktuell liegt sie bei 450 Euro). Innerhalb dieser Grenze fallen für den Arbeitnehmer keine Steuern an, er zahlt auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Bei den Midijobs (Einkommen von 400 Euro bis 800 Euro) gibt es ansteigende Arbeitnehmerbeträge zur Sozialversicherung; Arbeitgeber zahlen den vollen Beitragssatz.
Im wesentlichen Teilen war das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ab Januar 2004 gültig.
Mit Hartz III wurde das Arbeitsamt zur „Agentur für Arbeit“ umstrukturiert. Ein Kernpunkt dabei war die Einführung von Zielvereinbarung, die die einzelnen Agenturen erfüllen mussten. Wie diese Ziele erreicht wurden, blieb weitestgehend den einzelnen Agenturen überlassen.
Die Verwaltung auf Landesebene wurde abgeschafft. Stattdessen wurden sogenannte Job-Center geschaffen, die als zentrale Anlaufstelle für Arbeitslose dienen sollten. Zuvor mussten sie sich beim Sozialamt und beim Arbeitsamt melden.
Mit den Jobcentern wurden auch die Fallmanager eingeführt, die sich um die Langzeitarbeitslose kümmern sollen.
Die tiefgreifendste der vier Reformen, das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Hartz IV – trat wesentlich im Januar 2005 in Kraft.
Mit Hartz IV wurde die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II zusammengeführt. Die Arbeitslosenhilfe wurde komplett abgeschafft; die Sozialhilfe beziehen nur noch nicht erwerbsfähige Arbeitslose. Für die Verwaltung des Arbeitslosengelds II ist die Agentur für Arbeit zuständig.
Das bisherige Arbeitslosengeld – also die Leistung, die Arbeitslose durch ihre vormaligen Einzahlungen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung erwarben – hieß ab 2005 Arbeitslosengeld I. Wer arbeitslos ist und zuvor mindestens zwölf Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, erhält 60 Prozent seiner vorherigen Lohns (mit Kind: 67 Prozent). Es kann in der Regel nur für ein Jahr bezogen werden. Nach Ablauf des Arbeitslosengelds I, wird das vom bisherigen Lohn unabhängige Arbeitslosengeld II gezahlt. Ab dem Januar 2015 beträgt der Regelbedarf für einen Alleinstehenden 399 Euro – kann je nach Vermögen aber deutlich geringer ausfallen.
Die bremsende Wirkung der Agenda-Reformen auf die Sozialexpansion im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts ist also längst verpufft. Diese Reformen waren nicht zuletzt eine Antwort auf die steigende Sozialquote in den späten Neunzigerjahren, über die man sich in jeder zweiten Talksendung die Köpfe heiß redete. Sie lag damals zwischen 28 und 29 Prozent, was man als Alarmzeichen für die Überforderung des Sozialstaats wertete. Jetzt nähert sie sich längst der 30-Prozent-Schwelle, die sie in der deutschen Geschichte bisher nur einmal erreichte – nämlich 2009. Aber damals hatte eine scharfe Rezession das BIP um 5,6 Prozent verringert, während 2016 ein BIP-Wachstum von 1,9 Prozent zu verzeichnen ist.
Und dennoch scheint sich kaum ein Politiker Sorgen zu machen um den Sozialstaat. Die Kostensteigerungen durch die Zuwanderung scheinen keinen Sparimpuls auszulösen, sondern ein trotziges: Jetzt erst recht! Im Superwahljahr 2017 machen alle Parteien, vor allem aber die SPD munter Versprechungen: Wenn hunderttausende Zuwanderer in den Genuss deutscher Sozialleistungen kommen, ohne dass je in einem Parlament darüber gestritten wurde, dann sollte es schließlich doch kein Problem sein, wenn diejenigen, die schon länger hier sind und eingezahlt haben, dafür einen Nachschlag aus dem großen Topf kriegen.
Wenn Steigerungen um 169 Prozent ohne parlamentarische Gegenworte durchgehen, dann wäre es doch kleinlich, Arbeitslosen den längeren Bezug des Arbeitslosengelds vorzuenthalten oder Rentnern ihre Steigerungen nicht zu gönnen.
Goldene Zeiten für Martin Schulz und andere Wahlkämpfer der „sozialen Gerechtigkeit“ scheinen das zu sein. Und für den Fall, dass er sein Versprechen umsetzen kann, dürften es auch wieder goldene Zeiten für Arbeitgeber werden, die die verlängerten Bezugszeiten als Hilfsprogramm für die Frühverrentung nicht mehr gebrauchter älterer Beschäftigter nutzen. Goldene Zeiten vor allem aber für jene, die das Verteilen der Sozialausgaben professionell betreiben. Für Ministerialbeamte und Sozialpolitiker natürlich, die ein persönliches Interesse daran haben müssen, dass ihr Aufgabenbereich expandiert. Und natürlich für die längst professionalisierte Branche der engagierten Helfer.
Der Aufstand der Steuerzahler findet nicht statt
Zu dem nicht im Sozialbudget erfassten, über zig kommunale, Länder- und Bundesbudgets gewucherten, und durch keine politische Kritik wirksam eingehegten Dschungel der Programme und Projekte, gehören zum Beispiel: die 10 Millionen Euro, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Bundesministerium des Innern (BMI) für die Betreuung von Kindern ausgeben, deren Mütter und Väter an (natürlich ebenfalls aus staatlichen Mitteln finanzierten) Integrationskursen teilnehmen. Oder die 17,5 Millionen Euro, die das BMFSFJ für Mehrgenerationenhäuser zur Verfügung stellt.
Oder die unbezifferten Ausgaben des BMFSFJ für den Unterhalt des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ (samt Dolmetscherdienst in 17 Sprachen) und für das Modellprojekt „POINT – Potentiale integrieren“, das geflüchtete Frauen in Berlin bei der Aufnahme einer existenzsichernden Beschäftigung oder Ausbildung unterstützt.
Alarmrufe angesichts der explodierenden Kosten sind derzeit nur von wenigen zu hören. Die einen kommen von eher regierungskritischen Ökonomen. Bernd Raffelhüschen und Hans Werner Sinn wären zu nennen. Letzterer weist immer wieder, zuletzt hier in der WirtschaftsWoche, auf die Notwendigkeit hin, die Zuwanderung in den deutschen Sozialstaat durch drastische Senkung der Anreize zu beenden, um das System als Ganzes nicht langfristig zu zerstören. Sinn weist auch immer wieder auf die Pflicht des Staates zum Schutz des kollektiven Eigentums hin, das über Generationen hinweg geschaffen wurde.
Aus diesen Gründen bekommt nicht jeder Arbeitslose auch Geld
Nicht jeder, der seinen Job verliert, hat auch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das entscheidende Schlagwort ist hier die Anwartschaftszeit, also wie lange jemand gearbeitet hat, bevor er Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen möchte/muss. Die Regelanwartschaftszeit hat erfüllt, wer in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat.
Wer zwar gearbeitet hat, aber nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, hat ebenfalls keinen Anspruch. Wer sich also schwarz etwas nebenher verdient hat, kann das nicht als reguläre Beschäftigung geltend machen.
Die Dauer des Arbeitslosengeldanspruchs beträgt sechs bis 24 Monate. Sie ist abhängig vom Lebensalter und der Dauer der vorherigen Versicherungspflichtverhältnisse (§ 147 Abs. 2 SGB III). Danach gilt der Anspruch auf Arbeitslosengeld als aufgebraucht, bis die vorangegangenen Bedingungen wieder erfüllt sind. Wer also zum Beispiel nach einem Jahr keinen neuen Job hat, kann das Arbeitslosengeld I nicht neu beantragen, sondern bekommt Arbeitslosengeld II.
Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ist einkommensabhängig (§ 9 Abs. 1 SGB II). Menschen, deren Partner beziehungsweise Partnerin ausreichend verdienen, um die Existenz beider zu sichern, haben keinen Anspruch darauf.
Doch diese Pflicht ist für Politiker unangenehm. Schließlich ist es für Politiker sehr viel angenehmer, Geld zu verteilen und sich dadurch selbst im Licht der guten Werke zu präsentieren, als es jemandem vorzuenthalten. Der Ökonom Adolph Wagner hat schon 1863 sein „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“ formuliert, das seine Gültigkeit bisher nicht eingebüßt hat. Politiker und Beamte haben ein nachvollziehbares Interesse an der Ausdehnung ihrer Tätigkeit – und damit Macht. Dazu kommt in der aktuellen Lage die bequeme Möglichkeit, durch die Betonung der ungewöhnlich stark gestiegenen Steuereinnahmen, den Blick der Öffentlichkeit auf die Kostenseite zu vernebeln.
Unangenehm ist das alles nur für die Steuerzahler. Denen wird schließlich jeder Euro, den der Staat für Sozialleistungen aufwendet, in Rechnung gestellt. Der demokratischen Theorie nach müssten sie in ihrer Funktion als Wähler den notwendigen Druck auf die von ihnen gewählten politischen Repräsentanten ausüben, und sie an die Pflicht zum Schutz des kollektiven Eigentums erinnern. Doch das öffentliche Bewusstsein dafür scheint nicht vorhanden – vor allem nicht bei der Masse der kleinen und mittleren Steuerzahler, jener Leute also, die laut Martin Schulz, „den Laden am Laufen halten“, denen Schulz dafür aber außer „Respekt“ nichts zu bieten hat.
Man sollte meinen, dass diese angesichts der Kostenexplosion ein großes Bedürfnis hätten, über die Beschränkung der Staatsausgaben wenigstens zu diskutieren. Dass das nicht der Fall ist, ist nicht weniger besorgniserregend als die Kostenexplosion selbst.