SPD-Chefin Andrea Nahles kündigt Rücktritt an

Andrea Nahles Quelle: dpa Picture-Alliance

SPD-Chefin Andrea Nahles kündigt in einer Presseerklärung ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin an. Sie habe gemerkt, dass „der notwendige Rückhalt nicht mehr da“ sei. Auch ihr Bundestagsmandat will sie niederlegen.

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Eine Woche nach dem Absturz der SPD bei der Europawahl hat die innerparteilich umstrittene Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles ihren Rücktritt von allen Ämtern angekündigt. Sie begründete dies am Sonntag in einem Schreiben an die SPD-Mitglieder damit, „dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist“. Sie werde daher Anfang der Woche zurücktreten. Was das für die Koalition mit der Union bedeutet, die Nahles maßgeblich eingefädelt hatte, blieb offen. Aus der Union wurde Sorge laut, das Regierungsbündnis könnte zerbrechen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer mahnte, die Handlungsfähigkeit der Koalition dürfe nicht beeinträchtigt werden.

Die engere Parteiführung der SPD kam am späten Nachmittag in der Zentrale in Berlin zusammen, um mit Nahles über ihre Nachfolge beraten. Als Übergangsparteichefin ist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Gespräch. Diese sagte in Berlin: „Wir werden uns beraten und dem Parteivorstand morgen einen Vorschlag machen, wie wir weitermachen können.“

Über den Parteivorsitz soll ein Parteitag entscheiden, der von Dezember frühestens auf September vorgezogen werden könnte. Der Fraktionsvorsitz könnte Ende Juni neu bestimmt werden. Als dienstältester Fraktionsvize soll Rolf Mützenich bis dahin die Geschäfte führen. Die Fraktion sei in der Lage, alle Themen zu bearbeiten, die im Koalitionsvertrag verabredet seien, sagte Mützenich. „Und wir haben uns ja vorgenommen, insbesondere im Bereich der Grundrente, aber auch des Klimaschutzgesetzes weitere Dinge mit dem Koalitionspartner zu beraten.“

Nahles überraschte mit ihrem Rückzug sowohl Anhänger als auch Kritiker in ihrer Partei. Bis zuletzt hieß es in ihrem Umfeld, Nahles werde bei der von ihr auf kommenden Dienstag vorgezogenen Neuwahl des Fraktionsvorsitzes antreten. Was für ihren Sinneswandel den Ausschlag gab, blieb offen. Offenbar gelangte Nahles nach vielen Gesprächen zu der Überzeugung, dass der Machtkampf in der SPD auch nach einem knappen Sieg in der Fraktion nicht beendet wäre. Aus ihrem Umfeld hieß es, „entscheidende Player haben sich nicht loyal verhalten“. Das gelte nicht nur für die Fraktion, sondern auch für die Partei. Auch ihr Bundestagsmandat will Nahles zeitnah aufgeben.

Parteichefin war Nahles im April 2018 geworden, die Fraktion leitet sie seit September 2017. Den Absturz der SPD bei Landtagswahlen und zuletzt bei der Europawahl konnte Nahles aber nicht stoppen. In einer am Samstag veröffentlichten Forsa-Umfrage fiel die SPD mit zwölf Prozent auf ihren niedrigsten jemals gemessenen bundesweiten Wert. Im Herbst stehen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an, bei denen die SPD derzeit auf der Verliererstraße ist.

Als mögliche Kandidaten für den Fraktionsvorsitz gelten die bisherigen Stellvertreter Achim Post und Matthias Miersch. Abgeordnete der SPD sagten der Nachrichtenagentur Reuters, sie gingen davon aus, dass die Wahl verschoben und in der letzten Sitzungswoche des Bundestages vor der Sommerpause stattfinden werde. Für den Parteivorsitz dürften mehrere Personen infrage kommen, darunter auch Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz, der als enger Vertrauter und Wegbegleiter von Nahles gilt. Ambitionen auf den Parteivorsitz werden in der SPD auch der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, nachgesagt. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, könnte für den Parteivorsitz ebenfalls ins Spiel kommen, obgleich er bislang keinerlei Ambitionen erkennen ließ.

Folgen für die Große Koalition?

Der Rückzug von Nahles könnte auch den Fortbestand der Koalition gefährden. Bei Unterstützern von Nahles war in den vergangenen Tagen die Sorge laut geworden, die SPD könne ohne jede Strategie die Koalition verlassen. Schärfster Gegner der großen Koalition war von Beginn an der SPD-Nachwuchs Jusos. Deren Chef Kevin Kühnert hatte eine Personaldebatte abgelehnt mit den Worten, „schnell mal dahin gehauchte Personalwechsel“ brächten keine Wende zum Besseren. Am Sonntag kritisierte er den Umgang in der SPD miteinander. Dafür schäme er sich.

SPD-Vizechef Ralf Stegner und Fraktionsvize Karl Lauterbach warnten vor Schnellschüssen bei den Personalentscheidungen. Die zur Parteilinken zählende SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe forderte einen Neuanfang. „Die Versager von gestern dürfen nicht die Alternative für morgen sein“, sagte Kiziltepe. Nahles dürfe „nicht das Bauernopfer sein“.

Hauptvorwurf der Kritiker an Nahles waren Auftritte, die als schräg wahrgenommen wurden. Statt über Inhalte und Erfolge der SPD in der Koalition zu reden werde in den Wahlkreisen über ihr Aufreten gespottet. Andere Abgeordnete verwiesen darauf, dass Nahles wie keine Andere Verhandlungserfolge erzielt habe.

Nahles rief ihre Partei in ihrer Rücktrittsankündigung zum Zusammenhalt auf. „Bleibt beieinander und handelt besonnen“, schrieb sie. Die Union sorgt sich um den Fortbestand des Regierungsbündnisses. Bundeskanzlerin Kanzlerin Angela Merkel sagte: „Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit und großem Verantwortungsbewusstsein.“ Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus sagte: „Wir sind fest entschlossen, die große Koalition fortzusetzen, weil wir Stabilität brauchen.“

Der ehemalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann machte den Fortbestand der großen Koalition allerdings von der Lösung wichtiger Probleme wie Klimaschutz abhängig. Wenn dies nicht rasch geschehe, „dann verliert die Groko schnell ihre Berechtigung“, sagte er in der ARD. „Und deshalb ist offen, ob es Weihnachten die Groko noch geben wird.“ Auch der Chef der CDU in Brandenburg, Ingo Senftleben, stellte eine Fortsetzung der Koalition infrage. „Mit einer wankenden SPD, die ihren Kurs nicht geklärt hat, ist die Koalition kaum fortzuführen“, sagte er „Bild“. „Respekt, dass Andrea Nahles hier eine klare Entscheidung trifft“, erklärten die Grünen-Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach Nahles seine Hochachtung aus: „So brutal darf Politik nicht sein. Vielleicht denken wir darüber alle einfach nur nach.“

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