Tarifpolitik „Es ist paradox, dass die Gewerkschaften ständig nach dem Staat rufen“

DGB-Luftballons Quelle: imago images

Der Ökonom Hagen Lesch über die strukturellen Probleme der deutschen Gewerkschaften, die bröckelnde Tarifautonomie – und den fatalen Ruf nach der Politik als tarifpolitischer Ausputzer.

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Hagen Lesch ist Leiter des „Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen“ beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

WirtschaftsWoche: Herr Lesch, bis 12. Mai trifft sich der DGB zu seinem Bundeskongress und hat bereits Yasmin Fahimi zur neuen Vorsitzenden gewählt. In welchem Zustand präsentieren sich die deutschen Gewerkschaften?  
Hagen Lesch: Da muss man zwei Dinge auseinander halten. Einerseits das politische Lobbying der Gewerkschaften und ihren Einfluss auf die Regierung – da sind DGB, IG Metall & Co. sehr gut unterwegs. Das politische Lobbying der Gewerkschaften funktioniert blendend. Auf der anderen Seite steht eine erodierende tarifpolitische Schlagkraft. Sieht man von einigen hoch organisierten Bereichen ab, etwa dem Chemie- und Stahlbereich oder großen Konzernen der Metall- und Elektroindustrie, geht die Gestaltungsmacht der Gewerkschaften zurück.

Woran liegt das?
Die Gewerkschaften haben strukturelle Defizite. Durch den Wandel der Arbeitswelt und die Digitalisierung nimmt die Rolle von Frauen und Akademikern auf dem Arbeitsmarkt zu  – in  den Gewerkschaften sind diese beiden Gruppen jedoch seit Jahren unterrepräsentiert. Die Gewerkschaften organisieren auch zu wenig junge Menschen. Die Zahlen sind zwar gestiegen, doch noch immer ist das typische Gewerkschaftsmitglied jenseits der 50. Wenn diese Gruppe in den kommenden Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheidet und die Gewerkschaftsneigung der Erwerbstätigen konstant bleibt, schrumpft automatisch die Mitgliederbasis. Hinzu kommt, dass die wachsende Zahl von Plattformarbeitern, Start-ups und Kleinbetrieben für Gewerkschaften schwer zu erreichen sind.

Wie stark hat Corona den Gewerkschaften geschadet?  
Die Pandemie mit ihren Lockdowns und Homeoffice-Pflichten hat die Organisationsschwäche der Gewerkschaften verstärkt. Der wichtigste Faktor bei der Mitgliederrekrutierung sind ja die Betriebsräte und die persönliche Ansprache vor Ort. Wenn alle zu Hause sitzen, wird das schwierig.

Allerdings sinkt nicht nur die Mitgliederzahl der Gewerkschaften, sondern auch die Zahl der tarifgebundenen Unternehmen. Ist es da nicht verständlich, dass die Gewerkschaften die Hilfe der Politik gegen „Tarifflucht“ einfordern?
Nein. Der Ruf nach dem Staat ist eine Gefahr für das künftige Miteinander der Tarifpartner. Die Gewerkschaften versuchen immer stärker, die Arbeitsbeziehungen über politische Vorgaben zu steuern und Dinge politisch durchzusetzen, die man auch tarifvertraglich regeln könnte. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Forderung nach einem Recht auf Homeoffice. Da glaubt man, den Arbeitgebern über den Umweg Bundesregierung mehr abringen zu können. Eine solche Strategie unterhöhlt die Tarifautonomie. Und sie führt zu einem generell sinkenden Gestaltungswillen der Tarifpartner.

Was meinen Sie damit? 
Wenn die Tarifparteien nicht mehr fähig und willens sind, strittige Fragen selbst zu regeln und diese dem Staat zuschieben, kann eine Spirale entstehen, die sich immer schneller dreht und an deren Ende wie zu Zeiten der Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten in der Weimarer Republik eine staatliche Lohnpolitik stehen könnte, die die Regelungsbereitschaft der Tarifparteien weiter aushöhlt. Das ist eine Riesengefahr. Die Tarifparteien müssen sich wieder darauf besinnen, die Dinge bilateral zu regeln. Der Staat gerät sonst irgendwann in eine Rolle, in der die Gesellschaft von ihm regelrecht erwartet, dass er über die Köpfe der Tarifparteien hinweg entscheidet, wenn diese nicht weiterkommen.

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Der bislang schärfste staatliche Eingriff ist die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro unter Umgehung der Mindestlohnkommission, in der Vertreter der Tarifpartner sitzen. Ist das der Startschuss für eine noch stärkere Politisierung der Lohnpolitik?   
Das könnte sein. Es ist aber paradox, dass die Gewerkschaften ständig nach dem Staat rufen, um weiße Flecken in ihrer Mitgliederstatistik zu beseitigen. Ein hoher Mindestlohn und eine stärkere Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen senken den Anreiz für Beschäftigte, sich zu organisieren, anstatt ihn zu erhöhen. Und man schießt sich auch tarifpolitisch ins Knie: Durch den auf zwölf Euro steigenden Mindestlohn werden rund 160 Entgeltgruppen in rund 100 Tarifverträgen obsolet – die staatlich festgelegte Lohnuntergrenze verdrängt also viele von den Gewerkschaften mitbeschlossene Tarifregeln. Letztlich soll der Staat richten, was die Gewerkschaften nicht durchsetzen können. Löhne werden damit zur Sache der Regierung.

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