Zwölf Euro Mindestlohn „Dem Arbeitgeber wird die Rolle des Alimentierens zugewiesen“

 Mitarbeiter in Amazons Verteilzentrum in Neubrandenburg, Mecklenburg-Vorpommern. Quelle: dpa

Die Bundesregierung will die Lohnuntergrenze auf zwölf Euro anheben – zum Ärger vieler Arbeitgeber. Arbeitsrechtler kommen zu dem Schluss: Der Gesetzentwurf verschiebt soziale Verantwortung sehr weit in die Zuständigkeit der Unternehmen.

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Steffen Kampeter ist ein Mann der markigen Mahnungen. Die Bundesregierung plane eine Verlagerung des sozialstaatlichen Prinzips in die private Sphäre, klagte Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), jüngst. Und ergänzte seine Kritik mit einem plakativen Beispiel: Es gehe zwischen Unternehmen und Mitarbeitern um einen Austausch Lohn gegen Leistung – nicht darum, ob der „Beschäftigte in München in der Innenstadt wohnen und seine Kinder betreuen lassen kann“.

Der Konter des zuständigen Bundesarbeitsministers kam prompt: Das „ganze Untergangsgeschrei haben wir schon 2015/16 erlebt“, sagte Hubertus Heil (SPD). „Wir werden diesen Weg gehen und uns auch von Interessenvertretern, die am Rande immer klagen, nicht aufhalten lassen.“

Kampeters Ärger entzündet sich an den Plänen der Bundesregierung, den Mindestlohn von Oktober an auf zwölf Euro anzuheben. Heil und die SPD wollen damit ein zentrales Wahlkampfversprechen ihres Bundeskanzlers Olaf Scholz einlösen. Anfang Juli steigt die Lohnuntergrenze von aktuell 9,82 Euro brutto pro Stunde auf 10,45 Euro. Das hatte noch die Mindestlohnkommission beschlossen, die mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzt ist und unabhängig sein soll. Eigentlich.

Denn dass die Kommission nun per Gesetz übergangen werden soll, sehen die Arbeitgeber als rechtlich fragwürdig – und als Verstoß gegen die im Grundgesetz festgeschriebene Tarifautonomie. Da nun die Abgeordneten des Bundestags über das im Bundesarbeitsministerium (BMAS) entworfene Gesetz beraten, versucht die BDA, noch einmal Einfluss auf das Verfahren zu nehmen und für Änderungen zu lobbyieren.

Daher hat der Arbeitgeberverband gerade ein Gutachten des Münchner Professors für Arbeitsrecht, Richard Giesen, vorgestellt. Dessen Hauptvorwurf: Statt auf Austauschgerechtigkeit – was der Arbeitnehmer leistet, soll auch angemessen vergütet werden – rücke Heil nun die Bedarfsgerechtigkeit in den Mittelpunkt. „Dem Arbeitgeber wird die neue Rolle des Alimentierens zugewiesen“, sagt Giesen.

Das politische Ziel: „Angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“

Giesen macht das an der Begründung des Gesetzentwurfs fest: Auch im Niedriglohnbereich müsse eine Vollzeitbeschäftigung „zur angemessenen Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am gesellschaftlichen Leben“ befähigen, heißt es darin. Dem stünden steigende Lebenshaltungs- und insbesondere Wohnkosten entgegen.

Zudem genüge eine mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütete Vollzeitbeschäftigung nicht, um eine Rente zu erreichen, die Altersarmut verhindert. Giesen sieht in diesen Zeilen eine Art Versorgungsidee. Dem Arbeitgeber werde eine Verantwortung zugeschrieben, die eigentlich bei jedem selbst liege – und die, falls weder die Person noch ihre Familienangehörigen dafür sorgen, der Staat übernimmt und Grundsicherungsleistungen zahlt. „Es kann aber nicht die Aufgabe des Arbeitgebers sein, für eine Mindestversorgung nach Würdegrundsätzen zu sorgen“, sagte er.

Kira Falter, Partnerin der Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland, findet diese Tendenz bereits im Regierungsentwurf für das Mindestlohngesetz von 2014, das den klingenden Namen Tarifautonomiestärkungsgesetz trägt. Darin schrieb die damals regierende Koalition aus Union und SPD, der Mindestlohn schütze die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme.

Im Oktober hebt die Regierung den Mindestlohn auf zwölf Euro an. Wird das Beschäftigung kosten? Ökonom Lars Feld fordert, den Schritt wissenschaftlich genau zu überwachen. Er fürchtet strukturelle Arbeitslosigkeit.
von Sophie Crocoll

Ohne Lohnuntergrenze könnten Unternehmen einen Lohnunterbietungswettbewerb eben zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme führen, ist dort zu lesen, „weil nicht existenzsichernde Arbeitsentgelte durch staatliche Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ,aufgestockt‘ werden können“. Dieser Gedanke, sagt Falter, „wird nun deutlich stärker betont“.

Falter erinnert sich gut, wie unsicher viele Unternehmen bei Einführung des Mindestlohns waren: Welche Leistungen würden sie auf diesen anrechnen können? Boni? Sachleistungen? Auch Trinkgelder? „Dabei stand die Austauschleistung im Vordergrund“, sagt Falter. Nun lege der Entwurf aus dem Ministerium den Fokus stark auf die Bedarfssicherung.

Auch der Verweis auf Teilhabe, steigende Wohnkosten und Altersarmut verstärken für sie diesen Eindruck: „Diese Formulierungen verschieben die Verantwortung sehr weit in die Zuständigkeit des Arbeitgebers“, sagt auch Falter und nennt ein Beispiel: Bislang habe die Politik es sich selbst zur Aufgabe gemacht, Entwicklungen wie steigenden Mieten mit Instrumenten wie der Mietpreisbremse entgegenzuwirken.

Angemessenes Verhältnis?

Man könne sich auch fragen, ob die spätere effektive Rentensteigerung der Arbeitnehmer – bei einem Mehrverdienst von etwa 1,50 Euro pro Stunde, wenn die neue Untergrenze politisch auf 12 Euro gehoben wird – tatsächlich „in einem angemessenen Verhältnis zur Mehrbelastung der Arbeitgeber steht“. Andere Länder setzen auf ein anderes System: In Dänemark beispielsweise gibt es Ersatzraten von fast 100 Prozent, das heißt: Niedrigverdiener haben als Rentner genauso viel Geld zur Verfügung wie zuvor.

BDA-Gutachter Giesen jedenfalls kommt zu dem Schluss: Der Schutz eines Mindestmaßes an Austauschgerechtigkeit im Arbeitsverhältnis sei noch ein zulässiger Rechtfertigungsgrund für einen staatlichen Mindestlohn. Aber die Lohnuntergrenze können nicht die Funktion erfüllen, „dem berechtigten Arbeitnehmer eine besondere Form des sozialen Minimums oder an Alimentation zu garantieren“.

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Es wäre ein möglicher Ansatzpunkt für eine Klage gegen die Mindestlohnerhöhung. Ob es dazu kommt, hält sich die BDA allerdings noch offen. Es komme darauf an, „was aus dem Gesetzgebungsverfahren rauskommt“, sagte Hauptgeschäftsführer Kampeter. Er wünscht sich „mehr Respekt für bestehende Tarifverträge“, also beispielsweise Übergangsfristen, um den Eingriff abzumildern. Für eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht bräuchte die BDA ohnehin Verbände aus ihren Reihen. Klagen können nur von Eingriffen in die Tarifautonomie unmittelbar betroffene Tarifvertragsparteien – nicht die Bundesvereinigung selbst.

Lesen Sie auch, wie die Bundesregierung mit dem Eingriff in die Arbeit der Mindestlohnkommission das Gremium plötzlich überflüssig macht – und was das für dessen Zukunft bedeutet.

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