Tauchsieder

Die Corona-Schlafwandler

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Bill Gates warnt vor Folgen

Die prominenteste Warnung stammt bekanntlich von Bill Gates: „Wenn etwas in den nächsten Jahrzehnten über zehn Millionen Menschen tötet, wird es höchstwahrscheinlich ein hochansteckendes Virus sein“, sagte der Microsoft-Gründer im Jahr 2015 in einer Videobotschaft, und: „Wir sind für die nächste Epidemie nicht gewappnet.“ Gates hielt den Vortrag unter dem Eindruck der Ebola-Epidemie in einigen westafrikanischen Ländern, der rund zehntausend Menschen zum Opfer fielen. Und seine zentrale Botschaft war klipp und klar: Die Menschen weltweit haben Glück gehabt, weil Ebola nicht durch die Luft übertragen werde und nur ansteckend sei, wenn Erkrankte bereits das Bett hüteten: „Ein anderes Virus kann schon übertragbar sein, wenn sich die Kranken noch gesund fühlen, in ein Flugzeug einsteigen oder einkaufen gehen.“

Warum hat niemand auf Bill Gates gehört? Der Mann ist kein Milliardär wie viele andere, sondern ein fachlich hochversierter Laie. Gates hat sich seit Jahren der Bekämpfung weltweiter Krankheiten verschrieben. Er führt mit seiner Frau Melinda die größte Privatstiftung der Welt, ausgestattet mit einem Stiftungskapital in Höhe von rund 37 Milliarden Dollar und 1400 Mitarbeitern. Er hat geholfen, die Kinderlähmung auszurotten, und zählt den größten Finanziers der Weltgesundheitsoganisation WHO. Kurzum: Gates“ gesundheitspolitisches Wort sollte zählen. Und es zu missachten, grenzt an Fahrlässigkeit. Als habe es dafür eines Beweises bedurft, kofinanzierte die Gates-Stiftung im Oktober 2019 die Simulation eines Coronavirus-Ausbruchs an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Eine Gruppe von Politikern und Beamten stand vor der Aufgabe, die Pandemie zu stoppen oder aber ihre Folgen zu minimieren. Das Ergebnis: 65 Millionen Tote.

Bill Gates hat damals Verantwortungsträger auf drastische Weise mit dem Gedanken vertraut gemacht, sie seien nicht gut vorbereitet auf das, was zwingend auf sie zukommt. Zwingend? Ja, genau: zwingend. Um das zu verstehen, reicht ein einfaches Gedankenspiel mit Wahrscheinlichkeiten. Nehmen wir also an, die Chance, dass ein Virus in die Welt kommt, das so ansteckend ist wie die Masern und so verheerend wütet wie Ebola, liegt bei 0,001 Prozent, heißt das im Umkehrschluss: Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Virus in die Welt kommt, liegt bei 100 Prozent: Wir können also todsicher auf sein Erscheinen zählen - die Frage ist allein, wann es so weit sein wird, schon morgen oder erst in 1000 Jahren.

Insofern hat die populäre Metapher von den „schwarzen Schwänen“ schon immer mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet: Ihr Erfinder, der Publizist Nassim Nicholas Taleb, suggerierte, das Erscheinen zufälliger Unerwartbarkeiten kennzeichne die Moderne - obwohl sie sich, ganz im Gegenteil, als Produktionsstätte sichtbarer Wahrscheinlichkeiten auszeichnet. Konnten unsere Vorfahren beispielsweise noch jederzeit von elementaren Gefahren überrascht werden, stehen uns heute mehr oder weniger beherrschbare (Rest-)Risiken jederzeit klar vor Augen - wie jeder weiß, der schon mal mit klopfendem Herzen in ein Flugzeug gestiegen ist.

Die Finanzkrise hat Bankmanager daher nicht in Form eines „schwarzen Schwans“, sondern als Gewissheit erreicht, der sie, runduminformiert von Risikomanagern, ins Auge sahen. Und die Coronapandemie stößt uns nicht etwa zufällig zu, sondern notwendigerweise: Wir waren ihr nicht als Gefahr ausgesetzt, für deren Auftreten niemand etwas kann; Vielmehr ist es so, dass Politiker und Epidemiologen keine Vorkehrungen getroffen haben, um das Risiko auf der Basis des Gewissen angemessen zu adressieren. Ironischerweise hat der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler, noch am 24. Januar 2020 gestanden, das neuartige Coronavirus zu wenig zu kennen. Sein Nicht-Wissen reichte damals, um betont locker zu tun, während es heute dafür herhalten muss, vor zu schnellen Lockerungen zu warnen.

von Benedikt Becker, Sven Böll, Sophie Crocoll, Max Haerder, Cordula Tutt

Dabei hat auch Nassim Nicholas Taleb sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass die Pandemie niemanden überraschen könne: Die zunehmende globale Verflechtung - Geschäfts- und Reiseverkehr, Handelsbeziehungen, optimierten Logistikketten - hätten die Fragilität des Wirtschaftssystems, die Risiken einer Pandemie und ihrer ökonomischen Folgen stark erhöht, warnte Taleb bereits im Januar - und empfahl drastische Einreisebeschränkungen und Kontaktsperren. Wären sie konsequent umgesetzt worden, ohne (anfängliche) Rücksicht auf Fluggesellschaften und die Touristikbranche, auf den Geschäftsreiseverkehr und Lieferketten - wären die Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft womöglich deutlich niedriger ausgefallen.

Und heute? Sind wir dabei, unsere Fehler zu wiederholen? Die Beispiele Taiwan, Südkorea, Israel, vielleicht auch Island deuten an, dass die Infektionskurve mit dem konsequenten Einsatz von Masken und mit millionenfachen Tests, mit konsequenten Einreisebeschränkungen und einer Smartphone-App, die Menschen nach dem Kontakt mit einem Infizierten zur Selbstquarantäne auffordert, nicht nur abgeflacht, sondern womöglich gebrochen werden kann. Wenn sich aber die „Reproduktionsrate“ des Coronavirus auf diese Weise drücken und unter „eins“ halten ließe oder wenn gar China bewiese, konsequente Ausgangssperren könnten das Virus „besiegen“ - wie stünden dann am Ende die USA und Europa, wie stünde auch Deutschland da, wenn ihre Regierungen dennoch den „Tanz mit dem Virus“ wagten und Zehntausende von Toten zuließen?

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