Tauchsieder
Ein Blick ins Innere des Presidio Modelo, eine Strafanstalt auf der kubanischen Insel Isla de la Juventud. Quelle: imago images

Der Tod der Aufklärung

Licht aus: Die Kommodifizierung der Privatsphäre im Big-Data-Kapitalismus spielt autoritären Überwachungsregimen in die Hände. Das Ende der Geschichte ist nah – diesmal tatsächlich.

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Um zu verstehen, wie Big Data heute unsere Realität von morgen prägt, muss man die Utopien von gestern kennen – die Fortschrittsgeschichten der Aufklärer und Idealisten im 18. und 19. Jahrhundert. Etwa die von Jeremy Bentham. Von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Oder die des Marquis de Condorcet.

Fangen wir mit Jeremy Bentham an, ein britischer Jurist und Sozialreformer, tatendurstig beseelt von der Idee, die Welt jeden Tag ein kleines bisschen zu bessern. Sein Blick auf das England im 18. Jahrhundert ist halb kaufmännisch, halb medizinisch, sprich: hochmodern – es geht ihm um Effizienz und Optimierung, um die Gesundung und Vitalität des Gesellschaftskörpers. Bentham denkt konsequent von den Zwecken her: Gut ist, was den meisten nützlich ist, nur darum geht es – um the greatest happiness of the greatest number. Zu den Vorteilen dieser Sichtweise zählt, dass ihr zufolge jeder Mensch jederzeit ein Teil der glücklichen Mehrheit werden kann – er muss sich bloß kraft Einsicht auf den Weg in (s)eine lichtere Zukunft begeben. Und natürlich bereit sein, dem allgemeinen Ziel persönliche Opfer zu bringen, sofern er ihm im Weg steht.

Bentham dachte damals etwa an Arme, Trinker und Müßiggänger, denen man die Freuden der Arbeit und Sittlichkeit nahebringen müsse – im wohlverstandenen Interesse der Armen, Trinker und Müßiggänger, aber auch zum Wohle der Volksgesundheit insgesamt. Heute würde Bentham vielleicht Raucher in die Pflicht nehmen, zur Schonung ihrer selbst und der Sozialkassen. Vielleicht auch SUV-Fahrer umerziehen, die ihr Auto nicht for the greatest happiness of the greatest number künftiger Generationen abstellen wollen. Oder aber Uiguren darüber belehren, bitteschön ihre kulturelle Identität aufzugeben, um dem großen Glück ihrer Auto-Integration in die han-chinesische Leitkultur nicht im Weg zu stehen. Man sieht: Benthams utilitaristischer Fortschrittseifer, das Primat des Prinzips Nützlichkeit im Dienst der Mehrheit, kann ziemlich dunkle Schlagschatten werfen.

Benimm-Training im Panoptikum

Bentham hat bekanntlich auch das Panoptikum erfunden – das Modell einer Straf- und Besserungsanstalt, eines Arbeitshauses oder auch einer Fabrik, in der kein Insasse oder Arbeiter jemals sicher sein kann, ob er gerade beobachtet wird oder nicht. Auf der kubanischen Insel Isla de la Juventud hat das Presidio Modelo („Modellgefängnis“) später tatsächlich Gestalt angenommen: In den vier kreisrunden, jeweils fünfstöckigen Gebäuden sind die Zellen um einen zentralen Wachturm herum gruppiert – Zellen, die in Richtung des Wachturms nur mit Gittern verschlossen, also für die Kerkermeister jederzeit einsichtig sind. Aber was heißt schon Kerkermeister? Der Clou der Benthamschen Besserungsanstalt besteht ja darin, dass sich das Regime des Überwachens und Strafens weg vom vormodernen Richter-und-Wächter-Staat hin zum Selbstzucht-und-Gehorsams-Ich verlagert: Die Häftlinge sollen hier lernen, sich künftig gouvernemental zu verhalten, also kongruent zu den freundlichen Erwartungen, die der Staat seinen Bürgern entgegenbringt. Man kann auch sagen: Der Delinquent wird hier buchstäblich trainiert, sich in aller Öffentlichkeit gut zu benehmen – und man wird Bentham nur gerecht, wenn man ihn und sein Panoptikum mit Norbert Elias und Michel Foucault als Anstalt zur Verinnerlichung äußerer Zwänge entschlüsselt, als Ort des Erlernens von Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung.

Und doch liegt der eigentliche Clou des Panoptikums leicht abseits dieser Deutung – nämlich in der schillernden Dialektik der (Un-)Berechenbarkeit, der die Gefangenen unterworfen sind: Jeder muss jederzeit damit rechnen, beobachtet zu werden, auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass er augenblicklich beobachtet wird. Tatsächlich reicht in Benthams Gefängnis ein einziger Aufseher aus, um alle Insassen in Schach zu halten. Der Aufseher kann unmöglich alle Gefangenen gleichzeitig überwachen, aber das macht auch nichts – entscheidend ist, dass er es könnte. Die Verhaltenssteuerung des Delinquenten findet nicht im Wege der Überwachung und Beobachtung statt, sondern im Wege der allzeitigen Möglichkeit, er könnte überwacht und beobachtet werden. Was hier zum Tragen kommt, ist die un-heimliche Macht des Kontrafaktischen: It’s the Konjunktiv, stupid!

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