Tauchsieder

Therapiezone Ost

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Die „Heimatpolitik“ der CDU ist eine politische Hohlformel

Anders gesagt: Die neue „Heimatpolitik“ der Union ist eine politische Hohlformel – eine Art schwarz-rot-gold lackierte Sozial- und Strukturpolitik, mit der man sich die AfD vom Hals schaffen will, besonders in Ostdeutschland. Was der SPD der Mindestlohn ist, die Grundrente und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, sind der Union eine „heimatbezogene Innenpolitik“, die „Stärkung des ländlichen Raumes“, ein „Fördersystem für strukturschwache Regionen“. Der Vorteil: Das klingt nicht nach Verteilung, auch wenn es noch so viel kostet. Man hat sich in der Union dafür früher nicht wirklich interessiert, aber damals ging es ja auch nur um Sozen-Kumpel im Ruhrgebiet. Heute aber, ja heute – da gilt es die Menschen dann doch vor den „Entgrenzungen“ der Wirtschaftswelt zu schützen, sie nicht dem „ökonomisierten Denken“ (Innenminister Horst Seehofer, CSU) auszuliefern. Also sucht man kraftnational und kümmerpathetisch zu integrieren, wen man jahrzehntelang den anonymen Kräften der Wirtschaft und der Globalisierung, den Optimierungszwängen und Dumpinglöhnen ausgeliefert hat.

Schlimmer noch: Während die SPD immerhin sozial, materiell, konkret, kurz: politisch argumentiert, implementiert die Union ein neues, ressortübergreifendes Meta-Ministerium für Emotions-Management. Sie adressiert Menschen „in ländlichen Gebieten“, die das „Gefühl“ haben, „mehr und mehr abgehängt zu werden“. Die milliardenschwere „Heimatpolitik“ der Union ist daher auch zu verstehen als konservative Antwort auf eine Identitätspolitik, wie sie vor allem die Grünen pflegen: Man arbeitet nicht mehr volksparteilich-rechtsneutral im Sinne der Organisation und Integration von Mehrheits- und Zukunftsinteressen, sondern versteht sich als aktivistischer Lobbyverein mit nostalgischer Note, konkret: als Zielgruppencaterer fürs rückständige Landvolk – zumal die Union in den Städten ja ohnehin so gut wie abgemeldet ist. Einer Koalition mit den Linken steht im Osten also nichts mehr im Weg.

Drittens: Die Unions-Kommissionäre berufen sich gerne auf das Grundgesetz, wenn sie an der Schaffung ihrer „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ arbeiten. Das ist, gelinde gesagt, frech. Denn der betreffende Artikel (72) behandelt die konkurrierende Gesetzgebung, näherhin die Befugnisse des Bundes gegenüber den Ländern, die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ und die „Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse“ durchzusetzen. Jeder, der sich nur flüchtig mit den Beratungen im Parlamentarischen Rat (1948/49) befasst hat, weiß: Hier ging es im Rückblick auf die Nazi-Herrschaft um das Austarieren von föderalen und zentralen Interessen – um eine institutionelle Machtbeschränkung des Bundes, die nach Auffassung der Verfassungsmütter und -väter nicht so weit gehen darf, dass souveränitätsstolze Länder die Einheit des Ganzen gefährden.

Erst Mittelständler, jetzt DDR-Zeitzeugen: Die Unternehmerin Katrin Rohnstock hilft beim Erzählen – zur Freude der Politik.
von Elisabeth Niejahr

Viertens: Ja, liebe Frau Klöckner, im Idealfall hat jeder Mensch die Wahl: Er kann sich zum Beispiel – ein Dilemma statistischer Art – dafür entscheiden, in der Stadt eher einen Herzinfarkt zu erleiden oder aber dafür, auf dem Land eher einem Herzinfarkt zu erliegen. Weshalb man sich vielleicht doch besser alle sozial-, struktur-, heimat- und identitätspolitischen Projekte sparen sollte, die nicht das simple Ziel verfolgen, die Gruppe der Wahlfähigen zu vergrößern. Es ist nämlich ganz einfach: Jeder, der gesund ist, gut ausgebildet und prima verdient, kann nach München ziehen oder nach Hoyerswerda, in die Stadt oder aufs Land, kann sich abhetzen oder es ruhig angehen lassen, eine Familie gründen oder es sein lassen, in die Nähe von Theater- und Opernhäuser ziehen oder von Bergen und Waldseen. Und wem es an Ressourcen mangelt, der kann es eben nicht.

Der Rest ist beinharte Struktur-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht heimatpolitisch verbrämt gehört. Sondern über die es sich zu streiten lohnt. Ein paar Fragen für die nächste Kommissionsrunde: Warum soll ein Angestellter in Hoyerswerda mehr Zuwendung verdient haben als ein Selbständiger in München? Mit welchem Recht muss ein Frankfurter Polizist 35 Prozent seines Lohns für seine 50-Quadratmeter-Wohnung verwenden – und ein Polizist im Landkreis Fulda nur 25 Prozent für 100 Quadratmeter? Wie wäre es mit regional differenzierten Mindestlöhnen und Hartz-IV-Sätzen? Wie wäre es mit einem Schuldenerlass für liquiditätsklamme Kommunen? Und schließlich: Was soll an der Stärkung von Städten wie Leipzig, Erfurt oder Cottbus falsch sein, wenn man weiß, dass man die Uckermark ganz bestimmt nicht zu einem schwäbischen Wirtschaftswundertal umbauen kann? Ich bin gespannt auf Ihre Antworten.

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