Tauchsieder
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Therapiezone Ost

Ausgerechnet die Union entgrenzt den Sozialstaat zur Lebensbetreuungsagentur. Sie hält an der Schaffung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ fest – und diskreditiert Ökonomen, die Städte in Ostdeutschland stärken wollen.

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Am 26. Mai sind die Bürger in allen fünf ostdeutschen Flächenländern aufgerufen, neue Kreistage, Stadt- und Gemeinderäte zu wählen. Im Herbst stehen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen an. Das muss man wissen, wenn man die neuerlich aufgeflammte Diskussion verstehen will, die um die Schaffung von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ und die „Entwicklung des ländlichen Raumes“ kreist. Sie adressiert Bürger als Patienten, wendet das Politische ins Therapeutische und vollendet die Entgrenzung des Rechts- und Sozialstaats zu einer Lebensbetreuungsagentur. Eine Abrechnung in vier Schritten.

Erstens: Politiker in Deutschland haben kein Problem damit, 40 Milliarden Euro Anpassungshilfen für Braunkohleregionen zu verteilen, auch wenn es sich bei diesen 40 Milliarden um eine bloß ausgehandelte, normative, willkürlich gesetzte, rein politische Zahl handelt. Aber wenn Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) in einer empirisch belegten und nachdenklich stimmenden Studie zu dem Schluss kommen, vor allem die Stärkung ostdeutscher Städte würde der Region insgesamt helfen, ist ihnen ein ministerpräsidialer Shitstorm sicher.

Was ist geschehen? Der Präsident des IWH, Reint Gropp, hält eine Politik, die „gleichwertige Lebensverhältnisse“ schaffen will, für „unrealistisch und falsch“. Für die Produktivitätslücke zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland (20 Prozent) gebe es vor allem zwei Gründe. Erstens: Nur 36 der 500 größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz im Osten der Republik. Und zweitens: Die Subventionspolitik konzentriere sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, nicht auf deren Hochwertigkeit und die Verbesserung der Infrastruktur. Gropp empfiehlt daher, die Städte zu stärken; dort entstünden Dienstleistungen, die das Produktivitätsniveau anheben: „Natürlich ist es hart zu sagen, wir müssen ländliche Räume aufgeben. Aber nur so haben wir eine Chance, die Unterschiede zwischen Ost und West irgendwann mal auszugleichen.“

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Es ist leicht einzusehen, warum Gropp prinzipiell richtig liegt: Ein Software-Ingenieur mit Zweierabitur und Hochschulabschluss aus Baden-Württemberg lässt sich vielleicht nach Leipzig oder Dresden bewegen, aber mit ziemlicher Sicherheit nicht nach Löbau oder Döbeln. Trotzdem poltert Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU): Die Bevölkerung auf dem Land darf nicht von Fördermöglichkeiten ausgenommen werden! Und trotzdem wütet Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke): Die Forscher reihten bloß Statistiken aneinander, das macht die Menschen wütend! Es ist wie immer in solchen Debatten. Mangelt es einer Seite an Gründen, Belegen und Argumenten, sucht sie das Gegenüber moralisch zu diskreditieren.

Haseloff unterstellt dem IWH, die ländliche Region ausbluten zu wollen – ohne in Rechnung zu stellen, dass die wachsende Attraktivität von Stadt und Land sich dialektisch bedingen: Steigt die Attraktivität einer Großstadt, steigt mit deren Preisniveau auch die Attraktivität eines Umlandes, das mit ihr infrastrukturell verbunden ist. Und Ramelow? Der bedient, noch schlimmer, die rechtspopulistische Eliten- und Expertenkritik, um im Namen eines wahren Volkes zu dekretieren, was richtig und was falsch ist.

Zweitens: Dass Regierende es 30 Jahre nach dem Mauerfall überhaupt wagen, von der „Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zu sprechen, zeugt von einem planwirtschaftlichen Machbarkeitswahn des politischen Systems an sich. Denn wie immer man das Ziel auch definiert – es kommen nur Unsinnigkeiten oder Banalitäten dabei heraus. Julia Klöckner zum Beispiel, Co-Vorsitzende der Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, beeilt sich zu versichern, auf keinen Fall „gleiche Lebensverhältnisse“ zu meinen, igitigitt, das wäre ja materiell gedacht, man könnte auch sagen: sozialistisch. Nein, große Städte, kleine Städte, Metropolen und Dörfer mit reichen, normal- und geringverdienenden Menschen, das alles soll es weiterhin geben: „Es ist ja gut, dass wir Auswahlmöglichkeiten haben.“

Schön. Aber wenn Deutschland sich auch in Zukunft durch Optionsvielfalt auszeichnen soll – was um Himmels willen meint Klöckner dann mit „gleichwertigen Lebensverhältnissen“? Nun, sie meint: „Kita, Schule, Ärzte, Nahversorgung, Internet, gute Straßen, Busverbindung – und natürlich Arbeit.“ Mithin das, wozu Menschen mit mehr oder weniger großen „Auswahlmöglichkeiten“ mehr oder weniger Zugang haben, und zwar immer und überall, in Städten und in Dörfern.

Die „Heimatpolitik“ der CDU ist eine politische Hohlformel

Anders gesagt: Die neue „Heimatpolitik“ der Union ist eine politische Hohlformel – eine Art schwarz-rot-gold lackierte Sozial- und Strukturpolitik, mit der man sich die AfD vom Hals schaffen will, besonders in Ostdeutschland. Was der SPD der Mindestlohn ist, die Grundrente und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, sind der Union eine „heimatbezogene Innenpolitik“, die „Stärkung des ländlichen Raumes“, ein „Fördersystem für strukturschwache Regionen“. Der Vorteil: Das klingt nicht nach Verteilung, auch wenn es noch so viel kostet. Man hat sich in der Union dafür früher nicht wirklich interessiert, aber damals ging es ja auch nur um Sozen-Kumpel im Ruhrgebiet. Heute aber, ja heute – da gilt es die Menschen dann doch vor den „Entgrenzungen“ der Wirtschaftswelt zu schützen, sie nicht dem „ökonomisierten Denken“ (Innenminister Horst Seehofer, CSU) auszuliefern. Also sucht man kraftnational und kümmerpathetisch zu integrieren, wen man jahrzehntelang den anonymen Kräften der Wirtschaft und der Globalisierung, den Optimierungszwängen und Dumpinglöhnen ausgeliefert hat.

Schlimmer noch: Während die SPD immerhin sozial, materiell, konkret, kurz: politisch argumentiert, implementiert die Union ein neues, ressortübergreifendes Meta-Ministerium für Emotions-Management. Sie adressiert Menschen „in ländlichen Gebieten“, die das „Gefühl“ haben, „mehr und mehr abgehängt zu werden“. Die milliardenschwere „Heimatpolitik“ der Union ist daher auch zu verstehen als konservative Antwort auf eine Identitätspolitik, wie sie vor allem die Grünen pflegen: Man arbeitet nicht mehr volksparteilich-rechtsneutral im Sinne der Organisation und Integration von Mehrheits- und Zukunftsinteressen, sondern versteht sich als aktivistischer Lobbyverein mit nostalgischer Note, konkret: als Zielgruppencaterer fürs rückständige Landvolk – zumal die Union in den Städten ja ohnehin so gut wie abgemeldet ist. Einer Koalition mit den Linken steht im Osten also nichts mehr im Weg.

Drittens: Die Unions-Kommissionäre berufen sich gerne auf das Grundgesetz, wenn sie an der Schaffung ihrer „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ arbeiten. Das ist, gelinde gesagt, frech. Denn der betreffende Artikel (72) behandelt die konkurrierende Gesetzgebung, näherhin die Befugnisse des Bundes gegenüber den Ländern, die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ und die „Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse“ durchzusetzen. Jeder, der sich nur flüchtig mit den Beratungen im Parlamentarischen Rat (1948/49) befasst hat, weiß: Hier ging es im Rückblick auf die Nazi-Herrschaft um das Austarieren von föderalen und zentralen Interessen – um eine institutionelle Machtbeschränkung des Bundes, die nach Auffassung der Verfassungsmütter und -väter nicht so weit gehen darf, dass souveränitätsstolze Länder die Einheit des Ganzen gefährden.

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Viertens: Ja, liebe Frau Klöckner, im Idealfall hat jeder Mensch die Wahl: Er kann sich zum Beispiel – ein Dilemma statistischer Art – dafür entscheiden, in der Stadt eher einen Herzinfarkt zu erleiden oder aber dafür, auf dem Land eher einem Herzinfarkt zu erliegen. Weshalb man sich vielleicht doch besser alle sozial-, struktur-, heimat- und identitätspolitischen Projekte sparen sollte, die nicht das simple Ziel verfolgen, die Gruppe der Wahlfähigen zu vergrößern. Es ist nämlich ganz einfach: Jeder, der gesund ist, gut ausgebildet und prima verdient, kann nach München ziehen oder nach Hoyerswerda, in die Stadt oder aufs Land, kann sich abhetzen oder es ruhig angehen lassen, eine Familie gründen oder es sein lassen, in die Nähe von Theater- und Opernhäuser ziehen oder von Bergen und Waldseen. Und wem es an Ressourcen mangelt, der kann es eben nicht.

Der Rest ist beinharte Struktur-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht heimatpolitisch verbrämt gehört. Sondern über die es sich zu streiten lohnt. Ein paar Fragen für die nächste Kommissionsrunde: Warum soll ein Angestellter in Hoyerswerda mehr Zuwendung verdient haben als ein Selbständiger in München? Mit welchem Recht muss ein Frankfurter Polizist 35 Prozent seines Lohns für seine 50-Quadratmeter-Wohnung verwenden – und ein Polizist im Landkreis Fulda nur 25 Prozent für 100 Quadratmeter? Wie wäre es mit regional differenzierten Mindestlöhnen und Hartz-IV-Sätzen? Wie wäre es mit einem Schuldenerlass für liquiditätsklamme Kommunen? Und schließlich: Was soll an der Stärkung von Städten wie Leipzig, Erfurt oder Cottbus falsch sein, wenn man weiß, dass man die Uckermark ganz bestimmt nicht zu einem schwäbischen Wirtschaftswundertal umbauen kann? Ich bin gespannt auf Ihre Antworten.

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