Tauchsieder

Liberalismus mit Anstand - geht das?

Seite 3/3

Eigeninteresse des Individuums?

Gleichzeitig aber, und hier wird es endgültig interessant, werde "das Recht durch die Wege der liberalen Logik auf noch steilere Abhänge geführt", schreibt Michéa, um vor allem den Linksliberalen ihre Flausen auszutreiben. Denn während die Wirtschaftsfreunde damit beschäftigt seien, jedes moralische Sandkorn im Getriebe der liberalen Maschine zu identifizieren, um es als Hemmnis für die Effizienz des geölten Marktes zu entfernen, seien grünliberale Gleichheitsfreunde in einer Art Parallelbewegung damit beschäftigt, "alle Formen von Diskriminierung und Ausschluss" zu ahnden. In diesem Sinne, so Michéa, seien beide Denkbewegungen weniger zum Denken, vielmehr zur bloßen Bewegung verurteilt: Unendliche Vollendung fände das Projekt einer "Gesellschaft des kleineren Übels" einerseits im grenzenlosen Wachstum - und andererseits in einer Gesellschaft, in der es bis in alle Ewigkeit darum gehen wird, "das Recht aller auf alles" durchzusetzen.

Michéa zieht daraus den Schluss, dass die liberale Gesellschaft nicht nur verlernt hat, über verbindliche Werte, sondern auch ganz buchstäblich über gemeinsame Ziele nachzudenken. Am Anfang des Liberalismus, als er sich noch von traditionellen religiösen und moralischen Quellen nährte, die seine Entstehung begünstigten, stand der gut begründete Verzicht auf eine Definition des "guten Lebens". Heute, nach dem Versiegen der religiösen und moralischen Quellen, die seinen Leerlauf beschleunigen, hat der Liberalismus buchstäblich keine Chance mehr, das menschliche Leben in Bezug auf sein Ende zu begreifen. Der Rest der Menschheitsgeschichte ist stehendes Marschieren, fortschrittsloses Fortschreiten, brummkreiselnde Beschleunigung - eine "merkwürdige Zivilisation", so Michéa, "die als erste der Geschichte ihren Fortschritt auf ein systematisches Misstrauen, die Angst vor dem Tod und die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Liebens und Gebens" gegründet hat.

Was aber hält Michéa der "verzweifelten Anthropologie" des Liberalismus entgegen? Was hat er seinem Grundprinzip entgegen zu halten, dem Eigeninteresse des Individuums? Wie überwindet er die Grenze zwischen dem "Reich des kleineres Übels" und der "schönen neuen Welt", also die Grenze zwischen einer Welt voller Menschen "wie sie sind" - und Menschen, "wie sie sein sollen"? Michéa argumentiert vollkommen richtig, dass ein Ideologie gewordener Liberalismus, der kulturelle Differenzen planiert, um seinen Neutralitäts-Wert zu verabsolutieren, diese Grenze nicht mehr markieren kann und daher sehr zu Recht unter Legitimitätsdruck gerate. Doch angesichts der zugleich schmissig geschriebenen wie jederzeit unterhaltsam-weitschweifenden Diagnose fällt der Heilplan von Michéa dann doch etwas dünn aus.

Er bedient sich für seinen Befund - ohne ausdrücklich auf sie Bezug zu nehmen - reichlich bei Karl Polanyi (die These von der "Entbettung" des Marktes aus dem Sozialgefüge der Gesellschaft) und Marcel Mauss (Theorie der Gabe), würzt das Ganze mit Emil Durkheim und George Herbert Mead (die These vom solidarischen Band zwischen den Monaden, ihrer Zwischen-Menschlichkeit) - und mischt reichlich Charles Taylor und Michael Sandel dazu (der anthropologische Vorrang der "ethischen Idee" vor der "neutralen Vernunft"; das antike Tugendideal des "guten Lebens").

Heraus kommt der Gegenentwurf zu einem liberal optimierten Social Engineering, das uns zu merkantil-juristischen Dressurwesen degradiert. Heraus kommen statt dessen Menschen, die sich ihrer Verwurzelung in Traditionen und Kulturen bewusst sind. Die wieder einen Sinn für das Aufeinander-Bezogensein als einer anthropologischen Grundtatsache entwickeln - die darum wissen, dass ein "Einssein mit sich selbst" nur mit Blick auf andere möglich ist. Es sind konservative Menschen, die anständig (zusammen)leben möchten, denen nicht alles egal ist, was um sie herum passiert - Menschen, die Freiheit im Sinne von Charles Taylor als "Praxis steuernder Kontrolle" verstehen, als Fähigkeit, die wir - mit anderen - zu verwirklichen haben.

Dass sich Michéa dabei vor allem auf französische Autoren bezieht und den Faden zuweilen in seitenlangen Anmerkungen verliert - geschenkt. Dieses Buch ist ein fesselnder Vier-Stunden-Roadtrip für Liberale. Und ein Goldschatz für schwarz-grüne Vordenker. Ein schöneres Grundsatzpapier, das gleichermaßen mit der Marktgläubigkeit von CDU-Liberalen und der Permissivitätswut von grünen Fundis abrechnet, ist jedenfalls bisher noch nicht auf dem politischen Markt.

Jean-Claude Michéa, Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Matthes & Seitz 2014, 19.90 Euro.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%