Wenn Karl Marx heute noch leben würde ... – so fängt ein schlechter Text an. Und schlechte Politik. Kein Autor ist so folgenschwer ausgebeutet worden wie der Trierer Volksfreund, der an diesem Samstag vor 200 Jahren geboren wurde. Kein Denker hat die Welt mehr bewegt, gut anderthalb Jahrhunderte lang, von der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes 1848 bis zum Mauerfall 1989 – von einer leidenschaftlich-aufklärerischen Kampfschrift für die „Erkämpfung der Demokratie“ bis zum verdienten Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus.
Der 9. November 1989 war für Marxisten eine Art Karfreitag – für Marx selbst aber, den Schöpfer der kommunistischen Heilslehre, war es, als fielen Wiederauferstehung und Himmelfahrt auf einen Tag. Endlich konnte man ihn lesen wie Hegel, Nietzsche, Kierkegaard, ganz unverschämt und unverbrämt, als Klassiker des 19. Jahrhunderts, dessen „revolutionäres Denken“ nicht allein im Blick nach vorn, auf Lenin und Stalin, verständlich wird, sondern nur im gleichzeitigen Blick zurück, auf Danton und Robespierre.
Es war, als reinigte das historische Datum Marx vom Marxismus. Als emanzipierte der Fall der Mauer den überragenden Theoretiker des Industriekapitalismus vom Propheten kollektivistischer Erlösungspläne. Als triumphierte der junge, geniehafte Linkshegelianer der „ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ (1844), der die Welt nicht mehr verschieden interpretieren, sondern verändern wollte, vom bärtigen Gelehrten des „Kapital“, der sich so erfolglos seinen Kopf über das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ zerbrach.





Endlich fiel das schwere Kreuz der Ideologie von Marx’ Schultern, die politische Theologie von der „massenhaften Veränderung der Menschen“, die Gräuel des Stalinismus, die Zynismen der Planwirtschaft, die in seinem Namen stattgefunden hatten: Karl Marx, der Erlöser, war tot, von seinen Jüngern widerlegt und ins Grab gestoßen – und Karl Marx, der Soziologe, Journalist, Nationalökonom und Geschichtsphilosoph, der Kritiker der idealistischen Philosophie und der bürgerlichen Gesellschaft, durfte sein Nachleben noch einmal von vorn beginnen.
Sein Nachleben: Als junger Revolutionär, der die „versteinerten Verhältnisse“ in Deutschland 1844 wie die „offenherzige Vollendung des ancien régime“ empfand und das „verkehrte Weltbewusstsein“ einer Gesellschaft enttarnte, die Gott nach ihrem Bilde formte, um sich von ihm beherrschen zu lassen. Als Philosoph der Tat, der das Reich der Vernunft „von der Erde zum Himmel“ aufsteigen ließ, um gegen die idealistischen „Gedankenhelden“ seiner Zeit „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“. Als politischer Unruhestifter, der auf dem Höhepunkt des Manchester-Kapitalismus die „Proletarier aller Länder“ aufrief, sich gegen ihr „Zwangsarbeiter“-Dasein zu Diensten kapitalistischer Ausbeuter aufzulehnen. Und natürlich als ökonomischer Seismograph, der in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ die Funktionsweise der modernen Wirtschaft analysierte. Marx war mit dem Untergang des Kommunismus als Messias erledigt – aber nur, um als Chefanalytiker der „Bourgeois-Epoche“ in den Olymp der Ideengeschichte aufzusteigen. Und dort gebührt ihm heute fraglos ein Ehrenplatz.
Womit Marx seine Leser bis heute fasziniert, ja bezaubert: die hitzköpfige Kaltblütigkeit, mit der er niemals moralisierte. Marx hat die Religion als „illusorisches Glück“ entlarvt, aber nicht an den „Seufzern der bedrängten Kreatur“ vorbei gehört und eine metaphysisch ausgefegte Welt mit der frohen Botschaft vom irdischen Paradies beschenkt. Er lieferte entwurzelten, in monotoner Fabrikarbeit sich selbst „entfremdeten“ Arbeitern Parolen und Argumente gegen den parasitären Lebensstil vieler Kapitalisten – und er verwertete dabei zugleich den szientistischen Vorwärts- und Machbarkeitseifer des bürgerlichen Milieus.
Marx wollte die Welt im Wege einer Revolution verändern – und die historische Notwendigkeit der Revolution beweisen: „Im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren“, so hat es Joseph Schumpeter einmal auf den Punkt gebracht: „Dies schuf Marx eine leidenschaftliche Anhängerschaft.“
Nirgends hat er mit mehr Herz studiert und mit mehr Verstand agitiert als im Kommunistischen Manifest (1848): ein brillanter, mitreißender Text, der ständig zwischen Analyse und Dialektik changiert, munter Wissenschaft und Propaganda verquirlt – und eine unauflösbare Spannung aufbaut zwischen der Schilderung geschichtlicher Dynamik und hegelhistorischer Teleologie, zwischen unaufhörlichem Wandel und utopischem Endziel.
Marx schildert packend, dass die Harmonie- und Gleichgewichtslehre der vorindustriellen Marktwirtschaft und der klassischen Ökonomie (Adam Smiths „unsichtbare Hand“) vom Grundgesetz des Industriekapitalismus abgelöst wird: „fortwährende Umwälzung der Produktion, ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, ewige Unsicherheit und Bewegung“. Und er setzt sich dabei als erster Theoretiker der Globalisierung ein Denkmal: „Die Bourgeoisie reißt ... alle, auch die barbarischsten Nationen, in die Zivilisation … (und) schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde.“