
In einer Garage in Gummersbach machten am vergangenen Wochenende einige Männer und Frauen Politik. Der Studienrat Marcus Hohenstein und seine Mitstreiter der Elterninitiative „G9 Jetzt! NRW“ verpackten 65.000 Eintragungsbögen (Gewicht 810 Kilogramm), auf denen Platz für jeweils 30 Unterschriften und Adressen ist, in 396 Pakete und Briefe, um sie an alle Städte und Gemeinden Nordrhein-Westfalens zu schicken.
In den Rathäusern und Bürgerbüros des bevölkerungsreichsten Bundeslandes können dann ab dem 2. Februar und noch bis zum 7. Juni Bürger mit ihrem Personalausweis und ihrer Unterschrift einem Volksbegehren zum Erfolg verhelfen. 1.060.963 Unterschriften wahlberechtigter Bürger (acht Prozent aller Wahlberechtigten) sind notwendig, um eine Volksabstimmung erzwingen zu können. Über die Website der Elterninitiative g9-jetzt-nrw.de können sich Bürger auch noch bis zum 4. Januar kommenden Jahres auf so genannten „freien Listen“ eintragen, wenn sie eine der größten Reformen der deutschen Bildungspolitik rückgängig machen wollen.
Es geht um die Wiederabschaffung des „Turbo-Abiturs“, also der verkürzten Gymnasialzeit von acht (G8) statt früher neuen Schuljahren (G9) und der damit einhergehenden Verdichtung des Stoffs und Ausweitung des Unterrichts auf den Nachmittag. Aber eigentlich geht es um noch mehr: Der gesamten von allen etablierten Parteien mehr oder weniger mitgetragenen Bildungsreformpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte droht eine grundsätzliche Zurückweisung durch den Souverän, das Volk.





Nordrhein-Westfalen steht dabei nicht allein. In den meisten alten Bundesländern stehen die Zeichen der Zeit ebenso für eine entweder von den Landesregierungen freiwillig mitgetragene oder durch Volksbegehren angetriebene Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Niedersachsen ist bereits zu G9 zurückgekehrt. In Bayern hat Ministerpräsident Horst Seehofer sich zur Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 bekannt. Die Schulen sollen wahlweise G8 oder G9 – oder beides – anbieten können. G8 wird so vermutlich zur Ausnahme werden.
Denn die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung sind offenbar generell eindeutig für G9 und gegen G8. Die jüngste repräsentative Umfrage dazu hat Forsa im Saarland gemacht, wo auch eine Elterninitiative ein Volksbegehren plant. 72 Prozent der Saarländer – von den Eltern sogar 75 Prozent – wollen ein neunjähriges Gymnasium. „Die saarländischen Koalitionsparteien CDU und SPD versuchen uns bislang zu ignorieren“, kommentierte am vergangenen Montag noch Katja Oltmanns, Sprecherin der Initiative G9-jetzt-Saarland. Schon einen Tag später gab die saarländische SPD, die mit Ulrich Commerçon auch den Bildungsminister stellt, bekannt, dass sie mit der Forderung nach Wahlfreiheit für die Gymnasien in die Landtagswahlen am 26. März gehen werde. Commerçon berief sich dabei auch direkt auf die Forsa-Umfrage.
PISA, TIMSS, IQB, IGLU, VERA - Schulvergleichstests im Überblick
Diese vier Buchstaben stehen für den weltweit größten Schulvergleichstest, das „Programme for International Student Assessment“. Es wird alle drei Jahre von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris organisiert. Sie tut dies im Auftrag der Regierungen - oder in Deutschland für die Kultusministerkonferenz (KMK) der 16 Länder. Getestet werden 15-Jährige in Naturwissenschaften, Mathematik sowie Lesen und Textverständnis. An „PISA 2015“, dessen Ergebnisse am 6. Dezember präsentiert werden, nahmen weltweit mehr als eine halbe Million Mädchen und Jungen aus über 70 Ländern und Regionen teil, darunter etwa 10.000 aus Deutschland.
Abkürzung für die ebenfalls internationale Schulstudie „Trends in International Mathematics and Science Study“, hier geht es um mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen. Bei der jüngsten Erhebung im Jahr 2015 ließen sich unter Federführung von Bildungsforschern der Technischen Universität Dortmund bundesweit 4000 Viertklässler an 200 Grund- und Förderschulen testen. Weltweit waren es in rund 50 Staaten und Regionen gut 300.000 Kinder, zudem wurden 250.000 Eltern, 20.000 Lehrer und 10.000 Schulleiter befragt.
Diese Studie des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde zuletzt Ende Oktober vorgestellt. Sie liefert im KMK-Auftrag Daten und Fakten zum Stand der Schulpolitik in den Ländern. Der „Bildungstrend“, früher „IQB-Ländervergleich“, ersetzte vor einigen Jahren die regionalen PISA-Erweiterungsstudien (PISA-E). 2015 nahmen an den Tests in Deutsch und Fremdsprachen gut 37.000 Schüler der neunten Jahrgangsstufe aus über 1700 Schulen in ganz Deutschland teil.
Dabei handelt es sich in Deutschland um die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“, international lautet die Abkürzung PIRLS („Progress in International Reading Literacy Study“). Mit diesem Projekt wird in fünfjährigem Rhythmus das Leseverständnis am Ende der vierten Jahrgangsstufe erfasst. Für IGLU ist wie bei TIMSS das Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) der TU Dortmund unter Leitung von Wilfried Bos zuständig. Ergebnisse von PIRLS/IGLU wurden zuletzt im Dezember 2012 veröffentlicht, der nächste Bericht kommt 2017 heraus.
Diese länderspezifischen wie auch länderübergreifenden Tests mit Vergleichsarbeiten (kurz VERA) sind Teil eines Bündels von Maßnahmen, mit denen Qualitätsentwicklung und -sicherung auf Ebene der einzelnen Schule gewährleistet werden soll. „Unter den Lernstandserhebungen nehmen die bundesweit einheitlichen Vergleichsarbeiten für die Jahrgangsstufe 3 und 8 (VERA 3 und VERA 8) eine besondere Stellung ein“, schreibt die KMK.
In Nordrhein-Westfalen ist die Ablehnung noch deutlicher: Eine Online-Umfrage des Bildungsforschers Rainer Dollase im Auftrag der Landeselternschaft kam zum Ergebnis, dass 88 Prozent der Eltern (93 Prozent der Grundschul-Eltern!), ebenfalls 88 Prozent der Gymnasiallehrer (70 Prozent der Schulleiter) und 79 Prozent der Schüler an G8-Gymnasien in NRW das Turbo-Abi nach acht Jahren ablehnen.
Für Marcus Hohenstein und seine Mitstreiter in der Gummersbacher Garage und anderswo in NRW stehen die Chancen also eigentlich mehr als gut. Die Bürger sind grundsätzlich mit überwältigender Mehrheit auf seiner Seite. Das Problem wird jedoch sein, sie zu mobilisieren.