Vor dem Sonderparteitag Die SPD braucht linken Realismus

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Die vergessenen Arbeiter

Eine neue kosmopolitische Klasse, die massiv von den Entwicklungen der letzten dreißig Jahre ökonomisch profitierte, übernahm nun spätestens seit den 2000er Jahren beide liberalen Spielarten. So entstand ein „progressiver Neoliberalismus“ (Nancy Fraser). Ökonomisch ist man neoliberal, aber gesellschaftspolitisch hypt man Unabhängigkeit, feiert die Multikulturalität, ruft nach Weltoffenheit und Toleranz und diskutiert Selbstverwirklichungsthemen. So beschäftigt man sich stark mit einer liberal-postmodernen Identitätspolitik, in der die drängendste politische Frage die zu sein scheint, wie man die gesellschaftliche Liberalisierung noch weiter treiben kann und wie man es verhindert, dass die Rechtspopulisten es schaffen, erfolgreich „unsere“ Werte anzugreifen.

So verlor man viele Arbeiter und Ausgebeutete des Dienstleistungsprekariats ein zweites Mal. Denn man ließ sie in ihren Stadtteilen allein, nahm ihnen auch noch ihre kollektive Identität als Arbeiterklasse, und ignorierte aus den schöneren Vierteln heraus die Probleme bei Kriminalität und Integration. Oder man übernahm gleich selbst die alten Arbeiterviertel, gentrifizierte sie und verdrängte so die kleinen Leute.

Die Arbeiterklasse ist gewiss heute nicht mehr stereotypisch weiß, heterosexuell und männlich. Die kleinen Leute haben heute oft selbst Migrationshintergrund, ja: auch die weibliche Angestellte in der Großbäckerei gehört zu einer neuen Arbeiterklasse. Aber anstatt Ausbeutung, schlechte Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, stagnierende, gar sinkende Reallohnentwicklung der unteren Einkommensgruppen zu thematisieren, gab es von der Linken fast nur Reden über Anti-Diskriminierungspolitik und Familienpolitik. Davon kann aber selbst der türkische Leiharbeiter oder Paketdienstfahrer noch nicht automatisch seine Miete bezahlen. Die ökonomischen und lebensweltlichen Probleme der alten und neuen Arbeiterklasse wurden also eher ignoriert. Es dominierte hingegen ein sozialwissenschaftlicher Seminarsprech postmoderner Akademiker, der sich mit einem postdemokratischen Spin-Doctor-Deutsch zu einer unverständlichen Sprachsuppe verband. So schadete auch der postmoderne Liberalismus der Linken massiv. Die Linke steht folglich heute da, wo sie steht: Am Abgrund.

Da stehen wir also nun 2018: Es gibt keine Politik mehr. Warum? Wegen dieses „progressiven Neoliberalismus“. Im Grunde hängt man in einer Diskussion um Weltbilder fest. Wir Liberalen gegen die Rechtspopulisten. Das betrifft nicht nur die Mitte-Links-Parteien und die Merkel-CDU, die sich diesem progressiven Neoliberalismus angenähert hat. Es betrifft auch die linksliberalen Medien. Bei aller Medienkritik darf man nicht übersehen, dass der Binnenpluralismus der linksliberalen Medien immer noch da ist. Aber man kann sich dennoch des Eindruckes nicht erwehren, dass man dort eher Me-too-Debatten führt und Texte über Liebe, Glück und die Generation Y schreibt, als Debatten über die Zukunft des Eurokapitalismus, das Gelingen der Integration der Flüchtlinge, über Innere Sicherheit und über den Mindestlohn zu führen. Politische Debatten, zumindest ist das meine Behauptung, wirkten zuletzt auf viele Außenstehende so, als beschäftigt sich eine Meinungselite mit sich selbst und diskutiert in einem reinen Weltbilderdiskurs. Eine liberale Elite warb dabei für „ihr“ Weltbild und erklärte ansonsten alle großen – vor allem die ökonomischen – Debatten für geführt und erledigt.

Die Botschaft lautet, dass wir ein Land sind, in dem alle „gut und gerne leben“, und ansonsten Politik ein Verwaltungsjob ist, der zwar an der ein oder anderen Stelle noch besser werden muss, im Grunde man jedoch alles richtig macht. Diese Botschaft lässt viele Menschen aber unverstanden und verärgert zurück. Viele sahen sogar noch nicht mal diesen Verwaltungsjob ordentlich wahrgenommen. Die liberale Alles-ist-doch-gut-Philosophie ist falsch und schafft politische Verwerfungen, indem sie etwa so manchen Arbeiter, prekär Beschäftigten und auch einfach frustrierte und angesichts des kommenden digitalen Strukturwandels verunsicherte Menschen aus der Mittelschicht – sei es nur aus Enttäuschung – zu den Rechtspopulisten oder in die Wahlapathie treibt. 

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