Vor dem Sonderparteitag Die SPD braucht linken Realismus

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Linker Realismus ist mehr als neues linkes Denken

Politik findet statt, wenn man Gesetze machen will, um auf die Realität zu antworten. Nur ein Weltbild zu haben, ist noch keine Politik. Das ist eine Haltung. Aber Politik hat auch und sehr zentral mit Handlung zu tun. So eine Form der Regenbogenpolitik und Identitätspolitik, die also nur ein Weltbild ist, von dem man sich wünscht, dass andere Menschen dieses Denken und diese Haltung übernehmen, ist noch keine wirkliche Politik. Vor allem ist Identitätspolitik eine Form der Ego-Show, indem Menschen konditioniert werden, Politik über Identitäten zu begründen und zu bewerten. Der Politikwissenschaftler Mark Lilla hat das zuletzt in der „Zeit“ herausragend kommentiert, indem er deutlich machte, dass es bei der Identitätspolitik den Protagonisten eigentlich vor allem um sie selbst geht – auch wenn sie durchaus für Minderheiten Stimme erheben. Sie sind „expressiv“, sagte Lilla.

Das ist ungefähr das genaue Gegenteil von dem, was Jürgen Habermas mal den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ genannt hat. Bei Habermas und dem ganzen Universalismus der Moderne ging es um das Argument und um die Überzeugung. Den postmodernen Identitätspolitikern geht es hingegen um Selbstverwirklichung. Am Ende avanciert eine liberal-postmoderne Identitätspolitik so zu einer Form des politischen Ausdrucks der Person selbst und ist damit – hart formuliert – nur eine Form von Narzissmus.

Linker Realismus ist somit die Antwort auf die postmoderne Illusion einer Weltbildpolitik, in der man im Grunde nur selbstbezüglich agiert. Linkem Realismus geht es nicht um sich selbst, sondern die Realität ist der Ausgangspunkt. Linker Realismus ist auch die Antwort auf die postmoderne Illusion, die darin besteht zu glauben, man sei auf dem richtigen Weg und ansonsten seien alle großen Schlachten geschlagen, sodass man in ein gemütliches Verwalten verfallen dürfe, in dem letztlich nur noch „Stabilität“ zähle, weil es ja keine perfektere Ordnung gebe als diese neoliberal-postmoderne Ordnung von heute.

Linker Realismus ist aber nicht nur ein neues linkes Denken. Nein. Linker Realismus muss auch unmittelbare Handlungsfolgen für die Linke haben. Die Linke muss begreifen, dass erstens diese neue „liberale Hyperkultur“ (Andreas Reckwitz) aus Neoliberalismus und postmodernem Liberalismus nicht das ist, was sie forcieren, sondern im Gegenteil das ist, was sie kritisieren muss. Und zweitens bedeutet linker Realismus, dass sie wieder linker werden muss.
Für die Menschen, nicht für die Märkte. Das muss die neue Linie der Linken werden. Es ist Zeit für mehr Kapitalismuskritik. Und Kapitalismuskritik nicht allein aus Überzeugung, sondern aus empirischem Druck heraus. Der Neoliberalismus hat große Ungleichheit geschaffen und Menschen abgehängt. Das ist Realität. Der linke Realismus antwortet auf sie.

Dem linken Realismus geht es aber nicht nur darum, dass die moderate Linke einen falschen Sozialliberalismus überwindet, sondern er fordert vor allem die SPD auf, wieder zu einer Partei der Kümmerer zu werden, zu einer Partei, die Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt, und so langsam zu einer Partei der doppelten Sicherheit wird – soziale Sicherheit und innere Sicherheit. Mit dieser Ausrichtung hat die SPD auch wieder die Chance zur stärksten Partei zu avancieren. Viele aus der Mittelschicht, die nicht zum kosmopolitischen Jet-Set-Bürgertum gehören, und eben die kleinen Leute, würden diesen linken Realismus wählen. Denn sie verlangen nach einer Partei, die die Wirklichkeit benennt, anstatt sie zu verleugnen.

Genau darum geht es beim linken Realismus: Die Probleme, die die Wirklichkeit erzeugt, klar zu benennen und dann nach Lösungen zu suchen, anstatt sich in Weltbilddiskussionen zu verlieren.

Bestes aktuelles Beispiel für die Weltbilddiskussionen und den Realitätsverlust, der in der liberalen Elite zuletzt um sich griff, ist der Umgang mit der Essener Tafel, die einen Aufnahmestopp für Ausländer verhängte. Von vielen SPD-Funktionären, von den postmodernen Grünen sowieso, aber auch von Angela Merkel, kam sofort eine moralische Ermahnung, anstatt sich den Problemen zu widmen, die zu dieser Entscheidung führten. An diesem Beispiel zeigt sich die neue Moralpolitik einer liberalen Elite in Idealform. Diese Elite glaubt ganz offensichtlich, dass alles gut ist, und sie mit ihrer Politik auf dem richtigen Weg ist. Dabei ist sie nicht auf dem richtigen Weg. Vielmehr: Es gibt ja gar keine Politik mehr. Es gibt nur noch eine Verwaltung des postmodern-liberalen Status quo. Und das auch und gerade, weil in der liberalen Elite das Weltbild im Grunde sehr ähnlich ist: Es ist Liberalismus mit jeweils unterschiedlichen Akzenten.

So wird nur noch verwaltet und allenfalls zart über Spiegelstriche gestritten. Es mangelt an Visionen, an Ideen und an dem Mut, endlich mal wieder die „konkrete Utopie“ (Ernst Bloch) zu denken. Stattdessen wird jede Vision zerredet und schlecht gemacht. Wir leben in einer negativen Kultur. Sie lässt gerade nicht zu, dass etwas Neues entsteht. „Interregnum“ nannte das der Soziologe Wolfgang Streeck zuletzt. Währenddessen bleibt die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus weiter dominierend, mit der Gefahr, dass eine Regression heraufzieht, die nichts weniger sein wird, als eine reaktionäre Revolution von rechts.

Wenn die demokratischen Kräfte das nicht wollen, muss jetzt wieder radikal die Grundsatzfrage gestellt werden: Wie wollen wir eigentlich leben? Ausgangspunkt muss dabei die Wirklichkeit sein. Und dann müssen die Demokraten streiten. Ernsthaft und mit Anstand. Meinen, was sie sagen, und sagen, was sie denken. Kein postdemokratisches Geschwafel mehr. Debatten, die wieder bewegen. Das brauchen wir.

Dies ist noch nicht die beste aller Welten. Darum hat diese Welt Politik wieder nötig. Und mit dem linken Realismus kommt die Politik zurück. Oder um mit den Worten von Mark Lilla zu sprechen: Get real!

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