Die einen freuen sich über mehr Vielfalt und ein breiteres Angebot für den Nachwuchs, die anderen sind skeptisch und in Sorge um die Chancengleichheit. Vertieft sich mit der wachsenden Bedeutung von Privatschulen die soziale Spaltung im Land und driftet das Bildungswesen in Richtung Zwei-Klassen-System? Knapp eine Million Schüler - das ist jeder elfte Schüler - lernen inzwischen laut Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP) an einer Einrichtung in privater Trägerschaft. Man müsse angesichts dieser Zahlen nicht „überdramatisieren“, sagt Bildungsforscherin Nele McElvany von der Uni Dortmund. Aber den wachsenden Zulauf doch kritisch im Auge behalten. „Die Frage ist: Bis zu welchem Grad wollen wir das - mitsamt der starken sozialen Selektivität“.
Binnen 25 Jahren hat sich die Zahl der Schulen in privater Trägerschaft von rund 3200 auf knapp 5850 nahezu verdoppelt. Sie haben nach jüngsten Zahlen einen Anteil von 14 Prozent gemessen an allen Schulen. Das Wachstum kommt stark aus Ostdeutschland, wo es vor der Wende praktisch keine Privatschulen gab, erläutert McElvany. In fast allen Bundesländern sind die Privatschülerzahlen zuletzt im Schuljahr 2018/19 konstant oder steigend, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur zeigt.
„Wir sehen ein kontinuierliches Wachstum und eine steigende Beliebtheit“, schildert VDP-Sprecherin Beate Bahr. Privatpersonen, Stiftungen oder kirchliche Organisationen - alle können eine Privatschule gründen. Unter mehreren Bedingungen: Sie müssen dem VDP zufolge gemeinnützig und für jeden zugänglich sein, Kriterien und Auflagen erfüllen und staatlich genehmigt werden.
Wer lernt an Privatschulen? In hohem Maße eine „sozial privilegierte Schülerschaft“, berichtet McElvany. Die Privaten seien bereichernd. Allerdings: „Was nicht Idee und Ziel sein darf: Wer es sich leisten kann, wandert ab zu den Privatschulen.“ VDP-Sprecherin Bahr betont dazu, das Schulgeld werde gestaffelt nach Elterneinkommen erhoben. Die Schülerschaft sei heterogen. „Privatschüler sind keine selektive, elitäre Gruppe.“ Tendenziell nutzten „Familien mit Bildungsinteresse“ das Angebot stärker.
Privatschulen sollten nicht für soziale Spaltung verantwortlich gemacht werden, findet Bahr. Bedenken in diese Richtung gibt es schon länger, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wird deutlich: Die Existenz privater Schulen wirke „sozial selektiv“, kritisiert NRW-Landeschefin Maike Finnern.
Für zusätzliche Aufregung sorgt Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann, der sich zu mangelnder Sprachkompetenz vor der Einschulung geäußert und angeregt hatte, eine Einschulung notfalls zurückzustellen. Dabei sagte er der „Rheinischen Post“ auch: „Bis tief hinein in die Mittelschicht erlebe ich Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, weil das Niveau an staatlichen Schulen sinkt.“
Was also sind die Beweggründe der Eltern? Für viele gebe das pädagogische Konzept den Ausschlag, erläutert der Bundeselternrat (BER). Einige Privatschulen seien offenbar finanziell besser ausgestattet. Womöglich zeigten Lehrer an Privatschulen - wo sie tendenziell mehr Gestaltungsfreiraum haben - manchmal ein ganz besonderes Engagement, glaubt der BER-Vorsitzende Stephan Wassmuth. Und: Manche öffentliche Schulen machten aus finanziellen Gründen dicht und private Anbieter füllten diese Lücke.
Vielfalt sei begrüßenswert, meint der Elternrat: „Aber wir dürfen den Privatschulen nicht das Feld überlassen.“ Zentral über allem stehe das Ziel: „Wir brauchen ein durchweg hohes qualitatives Niveau für unsere Kinder.“ Dafür müsse deutlich mehr in Bildung investiert werden. Ausreißer beim Schulgeld seien nicht akzeptabel, betont Wassmuth: Es gebe Privatschulen, die 50 Euro pro Monat verlangten, aber manchmal eben auch extrem hohe Summen. „Das könnte die Chancengleichheit unterbinden, was fatal wäre“, findet er. Und: „Ein Zwei-Klassen-System wollen wir doch wohl alle nicht.“
Expertin McElvany sagt: „Es gibt Schulen, da geht es um Elite.“ Häufiger seien aber eine alternative Pädagogik oder ein christlich-sozialer Hintergrund wesentliche Merkmale. Besondere Ausrichtungen etwa im sportlichen oder kreativen Bereich könnten attraktiv wirken. Einige wollten das eigene Kind nicht an Brennpunktschulen schicken. „Manchmal haben Eltern auch tatsächlich keine Wahl.“ Wenn auf dem Land auch die letzte öffentliche Grundschule schließe, sei die private Schule alternativlos.
Fakten zu Privatschulen in den Bundesländern
Für Nordrhein-Westfalen meldet das Statistikamt IT.NRW steigende Zahlen. Zuletzt lernten dort demnach fast 163 100 Schüler an einer privaten Ersatzschule - 0,3 Prozent mehr als 2017/18. An der Schülergesamtzahl mache der Anteil der Privatschüler 8,6 Prozent aus - und sei vor allem bei Gymnasien mit 16,8 Prozent hoch. Nicht enthalten sind Berufs- und Weiterbildungskollegs, Förderschulen nur zu einem Teilbereich. Das Düsseldorfer Schulministerium zählt anders, kommt auf sogar 208 000 Privatschüler, aber einen „leicht rückläufigen“ Trend. Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) sieht die Privaten als eine Ergänzung, eine „gute und erfolgreiche Bildungsbiografie“ sei an allen Schulformen möglich.
Ebenso in Thüringen, wo mehr als jeder zehnte Schüler an einer privaten Schule lernt - Tendenz steigend. Das Milieu sei geprägt von einer gut situierten Elternschaft mit hohem Bildungsabschluss, meint die dortige GEW. Die Evangelische Schulstiftung verweist aber auf sozial gestaffeltes Schulgeld und gemischte Elternschaft.
Auch in Sachsen-Anhalt liegen Privatschulen im Trend.
In Brandenburg ist der Anteil binnen zehn Jahren von 8 Prozent auf aktuell gut 11 Prozent geklettert - was nach Einschätzung des Bildungsministeriums an besonderen Konzepten oder schlicht am kurzem Schulweg liegen könnte.
In Berlin besuchen rund 37 000 Schüler Privatschulen - ein Anteil von rund 10 Prozent.
Hamburg meldet „konstanten Zulauf“.
Das Bildungsministerium in Schleswig-Holstein hält die Ersatzschulen für „eine gute Ergänzung des öffentlichen Bildungssystems“. Dort lernen nur 5 Prozent der Schüler an Privatschulen.
In Niedersachsen blieb die Zahl der Privatschüler konstant.
In Bremen herrscht zwar große Unzufriedenheit mit den öffentlichen Schulen, einen Ansturm auf die Privaten gibt es trotzdem nicht. Laut Bildungsverwaltung besucht immerhin etwa jeder zehnte Schüler eine Privatschule.
Aus dem Saarland wird eine konstante Zahl von knapp 8600 Privatschülern gemeldet.
In Rheinland-Pfalz bewegt sich die Privatschüler-Quote in Richtung 8 Prozent.
In Hessen hat die Zahl der Privatschüler einen Höchststand erreicht. Rund 106.800 Schüler besuchten eine allgemeinbildende Privatschule - 0,8 Prozent mehr als 2017/18. Nach Einschätzung der dortigen GEW wollen Eltern über das Umfeld ihrer Kinder bestimmen. „Und private Schulen wählen nach Milieu oder auch nach Religion aus.“
In Hessen verzeichnete das Kultusministerium einen leichten, kontinuierlichen Anstieg: Dort besuchten nahezu 54.700 Heranwachsende eine allgemeinbildende Schule in privater Trägerschaft - ein Anteil von gut 7 Prozent. Viele Eltern hätten Interesse an Reformpädagogik, meint die Arbeitsgemeinschaft der freien Schulen. Auch die GEW in Hessen verlangt eine Stärkung des öffentlichen Systems. Die Privaten könnten mit kleinen Klassen und umfangreicher Betreuung punkten.
In Bayern gingen im Schuljahr 2018/19 knapp 146 800 Kinder und Jugendliche in eine der 625 Privatschulen. Das macht einen vergleichsweise hohen Anteil von 11,7 Prozent aus. Zur Motivation der Eltern heißt es beim dortigen Lehrerverband, viele wollten ihre Kinder vor dem in Bayern besonders leistungsorientierten System der öffentlichen Schulen bewahren. Es gebe aber auch elitär ausgerichtete Gründe. Von einer „bedauerlichen Entwicklung“ spricht der Landeselternverband. Eltern gingen wohl von besserer Förderung und Geborgenheit bei privaten Trägern aus.
Sind Rahmenbedingungen und Leistungen bei den Privaten so viel besser, wie es oft heißt? Bei Klassengröße und Unterrichtsstunden haben sie im Schnitt nur leicht die Nase vorn, erklärt McElvany. Das gelte auch für die Leistungen. „Und das liegt an der sozial privilegierten Schülerschaft und kann nicht als Erfolg des Konzeptes bewertet werden.“ Auch mit Blick auf Linnemanns Äußerung meint sie: „Eine Flucht aus dem öffentlichen Bildungssystem ist nicht der zentrale Faktor, der die Privatschulbewegung treibt.“