
Herr Wilkens, warum geht es Europa gerade so schlecht?
Ich glaube, so schlecht geht es Europa gar nicht. Klar, wir haben Probleme, es gibt Krisen – aber es gibt auch das Wahlergebnis aus den Niederlanden und die Pro-Europa-Bewegung „Puls of Europe“. Mein Gefühl ist, dass sich da gerade so etwas wie Optimismus für Europa entwickelt. Man könnte sagen: Wir schaffen das. Ich habe mich jedenfalls entschieden. Ich will ein Europa-Optimist sein.
Zur Person
André Wilkens wurde 1963 geboren und ist in Ostberlin aufgewachsen. Der Politikwissenschaftler hat viele Jahre in Brüssel, London, Turin und Genf gelebt und dort für die EU, Stiftungen und die UNO gearbeitet. Er ist mit einer Engländerin verheiratet. Sein neuestes Buch heißt „Der diskrete Charme der Bürokratie: Gute Nachrichten aus Europa“.
In der öffentlichen Wahrnehmung kommt Europa nicht so gut weg…
Ja, und das nervt total. Es funktioniert nach der Logik des Herdentriebs. Seit ein paar Jahren finde alle Europa total schlecht. Dabei gab es auch mal Zeiten, in denen jeder ein stolzer Europäer sein wollte. Dann kamen Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise – und die Stimmung ist gekippt. Es fragt aber niemand, ob das wirklich europäische Probleme sind. Und es erinnert sich kaum noch jemand an die Leistungen der EU. Früher gab es hier ständig Krieg. Europa war der Nahe Osten der Welt. Das ist zum Glück vorbei. Europa hat doch geliefert. Der Kontinent steht viel besser da, als die meisten Leute denken.
Naja, die Briten verlassen die Union, in Frankreich könnte eine Rechtspopulistin Präsidentin werden, die Euro-Krise ist längst nicht gelöst.
Ich sage ja auch nicht, dass Europa perfekt ist. Natürlich gibt es viele Probleme. Aber wer sagt denn, dass es immer nur schlechter werden muss? Vor 15 Jahren galt Deutschland als kranker Mann Europas. Wenn da einer gesagt hätte, dass die Bundesrepublik im Jahr 2017 als führende Macht in Europa gelten wird, als liberaler Anker der Welt – das hätte doch niemand geglaubt. Warum sollte Europa sich nicht ähnlich gut entwickeln wie Deutschland?
Momentan sieht es eher nicht nach so einer Entwicklung aus.
Aber man könnte Sie auslösen. Dafür brauchen wir jedoch vor allem wieder Vertrauen in Europa. Das ist das Allerwichtigste. Wir brauchen einen 1-Punkte-Plan. Und der Punkt ist, dass wir das Vertrauen wiederherstellen müssen. Erst wenn wir das geschafft haben, können auch all die 10-Punkte Pläne funktionieren, die so schön erdacht werden.
Viele betrachten Europa als Akademiker-Projekt. Wie erklären Sie einer ärmeren Familie, warum die Bundesrepublik Geld für die Rettung Griechenlands hat, aber nicht für mehr Kindergeld oder Betreuungsangebote?
Das ist eine schwierige Sache. Die Frage ist, ob Deutschland Griechenland überhaupt gerettet hat. Ich glaube das nicht. Man hätte damals direkt Eurobonds einführen sollen – oder einen Länderfinanzausgleich nach Vorbild Deutschlands.
Und was würden Sie der Familie nun erzählen?
Dass Europa eben kein Elitenprojekt ist. Vom Frieden profitieren doch alle. Genauso ist es mit der Reisefreiheit. Und mit der Freiheit, sich überall niederlassen zu können. Das nützt Handwerkern genauso wie Akademikern. Wir sollten Europa nicht immer nur aus ökonomischer Sicht betrachten, sondern uns als Einheit verstehen. Dann kämen solche Fragen vielleicht gar nicht erst auf.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
In Ihrem Buch erwähnen Sie das Erasmus-Programm als besonders gutes Beispiel für europäische Errungenschaften. Schon wieder so ein Bonus-Programm für ohnehin privilegierte Studenten.
Das ist doch Quatsch. Das Erasmus-Programm ist gerade dafür da, dass sich auch Studenten ohne finanzielle Unterstützung ihrer Eltern ein Auslandssemester leisten können. Das Programm ist ein riesiger Erfolg, da können Sie jeden Studenten fragen, der daran teilgenommen hat. Leider nehmen es aber bislang nur 20 Prozent aller Studenten an – das könnte man tatsächlich noch ausbauen. Und man sollte ähnliche Programme für Auszubildende auflegen, für Senioren, für Menschen, die sich freiwillig engagieren wollen. Man könnte auch jedem Europäer zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket schenken. Es wäre so einfach, die Menschen wieder für Europa zu begeistern.
Und wer soll das alles bezahlen?
Es wäre ein leichtes, Überkapazitäten innerhalb der EU abzubauen. Jedes Land hat seine eigene Armee – obwohl wir doch hoffentlich davon ausgehen, dass wir nie wieder gegeneinander auf Schlachtfeld ziehen werden. Warum legen wir die Truppen dann nicht zusammen? Oder die Geheimdienste: auch die könnte man zusammenführen und so viel Geld sparen und zudem schlagkräftiger werden. In der Wirtschaft fusionieren Unternehmen doch auch, wenn sie dadurch stärker werden und Geld sparen können.
Also mehr Europa wagen?
Ich bin kein Europa-Fundamentalist. Es gibt viele Politikfelder, die man besser auf europäische Ebene regeln kann: Energie, Verteidigung, Klima, Außenpolitik. Andere Dinge sollte man wieder in die regionale Verantwortung zurückgeben. Ich bezweifle, dass es wirklich nötig ist, Traktorsitze zu standardisieren.
Sie selbst haben eine ziemlich europäische Biografie – was begeistert Sie an Europa am meisten?
Meine Geschichte fängt hinter der Mauer an, ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen. Für mich war immer die Reisefreiheit das Tollste an der EU. Die Möglichkeit, woanders hin zu reisen, andere Menschen kennen zu lernen, sie lieben zu lernen, sie zu heiraten – das ist doch eine wunderbare Sache. Und für die will ich wieder mehr Menschen begeistern.