Seit einigen Wochen suchen Peter Altmaier Euphorie-Schübe heim. Nach der Niederlande-Wahl ging es los. „Niederlande, oh Niederlande, du bist ein Champion!“, verkündete der Kanzleramtschef auf Twitter. Geert Wilders hatte gerade seinen Sieg verspielt. Keine zwei Wochen später tippte Altmaier: „Heute so viel Gutes aus dem Saarland.“ Die AfD hatte bei der Landtagswahl schlechter als erwartet abgeschnitten. Vor zwei Tagen kam der letzte Schub: „Frankreich UND Europa können gemeinsam gewinnen! Die Mitte ist stärker als die Populisten glauben!“, schrieb Altmaier. Diesmal hatte Emmanuel Macron bei der ersten Wahlrunde in Frankreich gesiegt.
Vier Gründe für das starke Abschneiden der Extremen
Für die EU-Feindin Le Pen ist die Sache klar. Neben der „massiven Einwanderung“ sind auch die „Technokraten“ aus Brüssel schuld an Frankreichs Problemen. Nur ein wenig freundlicher schaut Mélenchon auf Brüssel. Er stört sich an den Sparvorgaben und wollte deshalb die europäischen Verträge neu verhandeln. Und wie anderswo in Europa widerstehen auch Politiker etablierter Parteien nicht immer der Versuchung, unangenehme Entwicklungen der Einfachheit halber der EU anzulasten.
Die hohe Arbeitslosenquote von 10 Prozent ist eines der größten Probleme Frankreichs. Bei jungen Leuten liegt die Quote sogar bei 23,6 Prozent. Die Konjunktur schwächelt. Soziale Ungleichheit treibt vor allem Mélenchons Anhänger und die Unterstützer des abgeschlagenen Sozialisten Benoît Hamon um.
Sozialisten und Konservative, die sich bislang im Élyséepalast die Klinke in die Hand gaben, haben die Wähler abgestraft wie nie zuvor. Beide sind in der Stichwahl nicht dabei. Das dürfte auch als Rechnung für den als schwach geltenden, scheidenden Präsidenten François Hollande zu verstehen sein. Verachtung für den selbsterklärten konservativen Saubermann François Fillon, der dann aber teure Anzüge annahm und seine Frau scheinbeschäftigt haben soll, dürfte auch eine Rolle gespielt haben.
Le Pens scharfe Attacken auf „die Kaste“ fallen in Frankreich vielleicht auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil das System der Elitehochschulen lebenslange Seilschaften fördert. Zahlreiche Politik- und Wirtschaftsführer kommen etwa von der Verwaltungshochschule ENA - bis hin zu Staatschef Hollande.
Die Euphorie-Schübe haben nicht nur Altmaier befallen. Nach Monaten der Demütigung durch Brexit, Trump, Orbán, Front National und AfD schöpfen Liberale in Europa plötzlich wieder Hoffnung. Wächst nicht gerade mit Puls of Europe eine Pro-EU-Bewegung heran? Haben nicht die Niederländer und Franzosen den nationalen Spaltern eine Abfuhr erteilt? Den Rechtspopulisten gehe langsam die Luft aus, heißt es nun. Die Macht der AfD zerfalle von selbst. Nur eine Frage der Zeit, bis sich das Problem mit den Rechtspopulisten in Wohlgefallen auflöst.
Es ist ein Wunschdenken, das gefährlich werden kann. Denn längst schaffen die Rechtspopulisten Fakten. In Ungarn macht ein Vertrauter Viktor Orbáns die letzte kritische Zeitung Népszabadság dicht. Dann peitscht Orbán ein Gesetzt gegen die Central European University durch. In Amerika treibt Trump die Pläne für seine Grenzmauer voran. Theresa May verhandelt den Brexit knallhart durch. Und Marine Le Pen holt in Frankreich für den Front National das beste Ergebnis aller Zeiten.
Florian Hartleb forscht seit Jahren zum Thema Rechtspopulismus. Schon 2011 schrieb er von der Etablierung der Rechtspopulisten, gerade ist sein neues Buch erschienen: "Die Stunde der Populisten", heißt es. Hartlebs These ist, dass sich Europa längst an die Rechtspopulisten ausgeliefert hat - und ihrer Taktik auf den Leim geht.
Um klar zu machen, was er damit meint, erzählt Hartleb von der Präsidentenwahl in Österreich. Dort drohte vergangenen Dezember der nächste Sieg der Rechtspopulisten: die Umfragen führte FPÖ-Kandidat Hofer lange an. Doch dann siegte der Ex-Grüne Alexander Van der Bellen mit 53,8 Prozent. "Alle waren total aus dem Häuschen", sagt Hartleb. "Dabei hatte gerade fast jeder zweite Österreicher für einen Rechtspopulisten gestimmt."
Ähnliches hat Hartleb nach den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich erlebt. Wieder holten Rechtspopulisten die besten Ergebnisse seit Jahren ein – wieder atmete das liberale Europa auf. Ein fatales Signal, findet Hartleb. Bittere Erkenntnisse wie der Einbruch der französischen Volksparteien gingen im Jubel über Macrons Sieg völlig unter, sagt Hartleb. Alle redeten nur noch über das Ergebnis der Rechtspopulisten. „Die Rechtspopulisten bestimmen längst den Diskurs.“
Verschärfung der öffentlichen Diskussion
Tatsächlich haben sich Tonfall und Inhalt der öffentlichen Diskussion verschärft. Galt die Forderung zur Abschiebung von Flüchtlingen bis vor wenigen Jahren noch als mittelgroßer Tabubruch, sagt heute Linken-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht: "Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt." War die europäische Grenzschutzbehörde Frontex lange ein Symbol für das kalte Europa, gilt die Sicherung der europäischen Außengrenzen heute als Voraussetzung für eine funktionierende Flüchtlingspolitik.
Die Gesichter der AfD
Geboren in Dresden, promovierte Chemikerin und Unternehmerin, Bundesvorsitzende der AfD. Mutter von vier Kindern, liiert mit dem AfD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, Marcus Pretzell: Das ist Frauke Petry. Sie gilt als pragmatisch und ehrgeizig. Auch wenn sie verbal gerne Gas gibt – inhaltlich steht Petry eher in der Mitte der Partei.
Björn Höcke (45) und Alexander Gauland (76) haben im November 2015 gemeinsam „Fünf Grundsätze für Deutschland“ veröffentlicht. Darin wettern sie gegen die „multikulturelle Gesellschaft“ und behaupten, „die politische Korrektheit liegt wie Mehltau auf unserem Land“.
Meuthen ist geboren in Essen, promovierter Volkswirt, seit 1996 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Kehl (Baden-Württemberg), Bundesvorsitzender der AfD, war Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und ist seit Mai 2016 Landtagsabgeordneter; er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Meuthen gehört zu den wenigen prominenten Vertretern des liberalen Flügels, die nach dem Abgang von Bernd Lucke in der AfD geblieben sind.
Sie ist geboren in Lübeck, Jurastudium in Heidelberg und Lausanne (Schweiz), Rechtsanwältin, stellvertretende Bundesvorsitzende und AfD-Landesvorsitzende in Berlin, seit 2014 im EU-Parlament, verheiratet. Gilt als ultrakonservativ.
Marcus Pretzell (43) ist geboren in Rinteln (Niedersachsen), Jurastudium in Heidelberg, Rechtsanwalt und Projektentwickler, seit 2014 Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, Vater von vier Kindern, seit 2016 verheiratet mit Frauke Petry. Der Europaabgeordnete hat die AfD als „Pegida-Partei“ bezeichnet. Parteifreunde rechnen ihn aber nicht zum rechtsnationalen Flügel.
Umstritten ist allerdings, ob die Verschiebung solcher Argumentationslinien wirklich die Folge rechtspopulistischer Bewegungen ist. Der Politologe Timo Lochocki forscht am German Marshall Fund über Rechtspopulismus und hat eine andere These aufgestellt. Er glaubt, dass die Rechtspopulisten die Akzeptanz von Positionen, die es in der Bevölkerung schon gibt, lediglich beschleunigen. Dafür müsse man nur mal aufs Land fahren, erzählt Lochocki. Dort merke man schnell, wie die Stimmung bei vielen Menschen ist. „In unseren liberalen Blasen nimmt das aber kaum jemand wahr.“
Folgt man Lochockis Analyse, nährt sich der Erfolg der Rechtspopulisten vor allem aus dieser Ignoranz. Die Rechtspopulisten nehmen breite Meinungsströmungen auf, spitzen sie zu – und setzen die etablierten Parteien unter Druck. Die einzige wirkungsvolle Gegenstrategie besteht für Lochocki darin, den Rechtspopulisten ihre Themen wieder wegzunehmen. Das habe geklappt, als Schäuble hart gegen Griechenland vorging und die AfD in der Folge zusammenschrumpfte. Und es funktioniere nun wieder in Großbritannien. „Durch den harten Brexit-Kurs von Theresa May hat Ukip enorme Probleme bekommen.“
Andere Forscher bezweifeln, dass man die Rechtspopulisten mit dieser Taktik bezwingen kann. „Warum sollte man eine Kopie wählen, wenn man das Original haben kann“, sagt Florian Hartleb. Er hat den Glauben an die etablierten Parteien aufgegeben. Die einzige Chance sieht er in neuen Bewegungen und frischen Kandidaten wie Macrons En Marche. „Wenn es keine neuen Bewegungen gibt oder die alten Parteien neue Gesichter hervorbringen und neue Themen setzen, wird der Siegeszug der Rechtspopulisten weitergehen“, sagt Hartleb.
Eine ähnliche Prognose wagt auch sein Kollege Lochocki. „Die Rechtspopulisten können ihre extremen Forderungen zwar nicht durchsetzen“, sagt er. „Aber aus liberaler Perspektive rückt Europa nach rechts.“