Brexit May ebnet Parlament Weg für Verschiebung des EU-Ausstiegs

May ebnet Parlament Weg für Verschiebung des EU-Ausstiegs Quelle: dpa

Theresa May will das Parlament über eine Verschiebung des Brexit-Termins abstimmen lassen. Die deutsche Wirtschaft sieht die Pläne der Premierministerin mehr als kritisch.

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Am Ende hatte Theresa May wohl keine andere Wahl: Konfrontiert mit einer Rebellion in ihrer Regierung und ihrer konservativen Partei machte die britische Premierministerin am Dienstag eine Kehrtwende und stellte erstmals eine Verschiebung des EU-Austritts in Aussicht. Zu dem gefürchteten Brexit ohne Vertrag am 29. März soll es nur kommen, wenn eine Mehrheit der britischen Abgeordneten aktiv dafür stimmt. Das gilt als sehr unwahrscheinlich. In ihrer Erklärung vor dem Unterhaus nannte die konservative Premierministerin drei Punkte: Sie will spätestens am 12. März erneut über das EU-Austrittsabkommen abstimmen lassen - idealerweise nach einer Einigung mit der EU auf Nachbesserungen, über die gerade mit Brüssel gesprochen wird.

Sollte keine Mehrheit für das Abkommen zustande kommen, will May bis 13. März dem Unterhaus die Frage vorlegen, ob die Abgeordneten einen Brexit ohne Vertrag wollen. „Das Vereinigte Königreich wird also nur ohne Deal am 29. März ausscheiden, wenn es die explizite Zustimmung dieses Hauses dazu gibt“, sagte May. Falls das Parlament Nein sagt, will May am 14. März den Vorschlag machen, bei der EU eine „begrenzte Verlängerung“ der zweijährigen Austrittsfrist zu beantragen. Eine Verschiebung wäre so gut wie sicher eine einmalige Angelegenheit und solle nicht länger als bis Ende Juni gelten. Stimmen die Abgeordneten und dann auch die EU zu, würde Großbritannien nicht am 29. März ausscheiden.

Die Gefahr eines britischen EU-Austritts mit Chaos und Unsicherheit ist damit vorerst kleiner geworden. Noch ist sie aber nicht gebannt. Denn bislang sind weder eine Mehrheit für das ausgehandelte Abkommen noch ein Durchbruch in den Gesprächen mit der Europäischen Union in Sicht.

Offiziell äußerte sich die EU nicht, doch signalisierte ein hochrangiger Vertreter in Brüssel Offenheit, wenn es so weit kommen sollte. „Eine Verlängerung um ein paar Monate wäre relativ einfach.“ Andere EU-Diplomaten wiederum unterstrichen, dass es keinen Durchbruch in der Substanz gebe. „Ich glaube, in der jetzigen Situation wäre eine Verlängerung eine vernünftige Lösung“, sagte am Montag indes EU-Ratspräsident Donald Tusk. Und er versprach „maximales Verständnis und guten Willen“ der übrigen 27 EU-Länder, die eine Verschiebung einstimmig billigen müssten.

Zur Zeitspanne äußerte sich Tusk allerdings nicht. Als Hürde gilt die Europawahl vom 23. bis 26. Mai. Als EU-Mitglied müsste Großbritannien Abgeordnete wählen lassen. Auch May erklärte das zum Problem: „Eine Verlängerung bis nach Ende Juni würde bedeuten, dass Großbritannien sich an den Europawahlen beteiligen würde. Welche Botschaft würde das an die mehr als 17 Millionen Menschen senden, die vor fast drei Jahren dafür gestimmt haben, die EU zu verlassen?“ Nähme Großbritannien nicht an der Wahl teil, sei aber eine zweite Verschiebung extrem schwierig, sagte May, und die Gefahr eines No Deal Ende Juni damit noch höher. Sie betonte, dass sie eigentlich keine Verschiebung des Brexit-Termins wolle.

Ob sich die Rebellen von Mays Angebot abhalten lassen werden, ist unklar. Die Regierungschefin könnte bei einer Abstimmung am Mittwoch über die weiteren Brexit-Schritte die Kontrolle über das Verfahren verlieren. Mehrere Regierungsmitglieder drohen offen damit, für einen Antrag zu stimmen, der May zum Verschieben des Austritts zwingen könnte. Bis zu 15 Parlamentarische Staatssekretäre seien bereit, ihre Ämter niederzulegen, berichtete die „Daily Mail“ am Dienstag. Drei bekannten sich dazu, im Notfall parteiübergreifend im Parlament gegen May zu stimmen, um einen No-Deal-Brexit abzuwenden: Industrie-Staatssekretär Richard Harrington, Margot James (Digitales) und Claire Perry (Energie). Die Regierung müsse einen kühlen Kopf bewahren, heißt es in einem Gastbeitrag der drei Politiker in dem Blatt. Die Folgen eines No Deal wären für die Wirtschaft gravierend.

Für einen Paukenschlag sorgte am Montagabend der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn: Er kündigte an, seine Partei stelle sich hinter die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum. Zuvor will die Labour-Partei jedoch versuchen, die Regierung von ihren eigenen Brexit-Plänen zu überzeugen. Labour setzt sich dafür ein, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt. Das lehnt May jedoch kategorisch ab.

Labour-Chef Jeremy Corbyn nannte das Vorgehen der Regierungschefin grotesk rücksichtslos. May spiele absichtlich auf Zeit. Wenn das Parlament einen Brexit-Vertrag zustimmen, sollte dies durch eine Volksabstimmung bestätigt werden, forderte Corbyn. Am Vortag hatte er sich nach langem Zaudern hinter die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum gestellt, sollten sich im Parlament für Labours Alternativplan für den Brexit nicht genügend Anhänger findet. Eine Mehrheit im Unterhaus für den Vorschlag der Partei gilt als illusorisch, da die regierende Konservative Partei und die nordirische DUP zusammen eine Mehrheit haben.

„Eine kurzfristige Verlängerung bringt überhaupt nichts“

Die Regierungschefin bemüht sich bisher vergeblich um Nachbesserungen an dem mit Brüssel ausgehandelten Austrittsabkommen. Eine erneute Abstimmung über den im Januar vom Parlament mit überwältigender Mehrheit abgelehnten Deal in dieser Woche hatte May daher ausgeschlossen. Das Vereinigte Königreich will die EU in knapp vier Wochen nach gut 45 Jahren Mitgliedschaft verlassen. Bis Ende 2020 soll es eine Übergangsphase geben, in der dort noch EU-Recht gilt. Die Zeit, die notfalls um zwei Jahre verlängert werden kann, gilt aber nur, wenn London vor dem Austritt den Vertrag mit der EU ratifiziert.

Die deutsche Wirtschaft sieht eine Verschiebung des Brexit kritisch. „Eine kurzfristige Verlängerung bringt überhaupt nichts. Die Unsicherheit bleibt bestehen“, sagt Ulrich Ackermann, Außenwirtschaftsleiter des VDMA dem „Handelsblatt“. Die britische Regierung solle besser eine Verschiebung um mehrere Monate, wenn nicht sogar bis 2020 erwägen. „Nur dann können die Unternehmen auf Entwarnung schalten und darauf hoffen, dass sich die politischen Entscheider neu sortieren.“ Ein kurzzeitiges Verlegen ohne eine Lösungsidee helfe nicht weiter, sagt auch der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben.

Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zeigte sich skeptisch gegenüber einer möglichen Verschiebung des Brexits: „Priorität muss die Vermeidung größeren wirtschaftlichen Schadens haben. Sollte London eine Verlängerung beantragen, muss es zu einer echten Lösung der Probleme kommen“, sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Die Gefahr bestehe, dass die britische Politik Zeit kaufe und die Beantwortung der Sachfragen nur verschiebe. „Dann wären unsere Unternehmen auf dem falschen Fuß erwischt. Auch die Gefahr eines harten Brexits bleibt im Raum.“

Bundesjustizministerin Katarina Barley fordert May auf, den Weg für ein neues Brexit-Referendum freizumachen. Sie habe bereits vor zwei Jahren für einen zweiten Volksentscheid plädiert, sagt die Spitzenkandidatin der SPD für die Europa-Wahl der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. „Beim ersten konnte noch niemand wissen, was ein Brexit genau bedeutet.“ Immer mehr britische Bürger hätten den „Eindruck, dass ihre Regierung den Prozess nicht im Griff hat“. Alternativ zu einem neuen Brexit-Votum könne May auch einen ganz neuen Brexit-Vorschlag auf den Tisch zu legen.

Großbritannien will trotz der eventuellen Verlängerung der EU-Mitgliedschaft nicht an den Europawahlen im Mai teilnehmen. Die Regierung habe stets die Position vertreten, keine Wahl abzuhalten, sagt ein Sprecher Mays in London. Der EU-Urnengang ist vom 23. bis 26. Mai angesetzt und gilt als eine der große juristischen Hürden für einen längeren Verbleib von Großbritannien in der Staatengemeinschaft. Nach derzeitigem Stand soll das Haus auf gut 700 Abgeordnete verkleinert werden, da die Sitze aus Großbritannien wegfallen.

Berichte über die mögliche Verschiebung des Brexits verliehen dem britischen Pfund weiter Auftrieb und ließen den Kurs im Handel mit dem Euro auf den höchsten Stand seit fast zwei Jahren steigen. Am Dienstag kletterte der Kurs im Vormittagshandel bis auf 1,1621 Euro, so hoch wie seit Mai 2017 nicht mehr.

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