
Angesichts von Brexit und zunehmender Europaskepsis hat die EU-Kommission radikale Konzepte für eine Reform der Europäischen Union vorgestellt. „Die Zukunft Europas liegt in unserer Hand“, sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bei der Präsentation des Grundsatzpapiers am Mittwoch im Europaparlament.
Die Europäische Union stehe für 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand, hieß es in dem präsentierten Papier. „Trotzdem empfinden viele Europäer die EU entweder als zu weit entfernt oder als sich zu sehr in den Alltag einmischend.“ Andere stellen demnach infrage, ob die EU überhaupt einen Mehrwert bringe.
Die fünf präsentierten Szenarien reichen von einer radikalen Rückbesinnung auf den Binnenmarkt und einem Verzicht auf weitere politische Vertiefung der EU bis hin zu einem Modell der Vereinigten Staaten von Europa, in dem die 27 verbleibenden EU-Länder deutlich mehr Beschlüsse als bisher gemeinsam treffen und Entscheidungsgewalt von der nationalen Ebene abgeben würden. Dazwischen liegen noch ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, eine Konzentration auf einige wenige wichtige Politikbereiche, in denen dann mehr gemeinsame Beschlüsse getroffen würden, sowie ein Modell, das im Wesentlichen ein „Weiter so“ der bestehenden EU bedeuten würde.
Die fünf Szenarien der EU-Kommission zur Zukunft Europas
Die EU der 27 verbleibenden Staaten würde sich weiter an ihren bisherigen Grundfesten orientierten. Dazu gehören etwa die Verteilung von Entscheidungskompetenzen zwischen den nationalen Regierungen und der übergeordneten EU-Ebene. Neue Probleme würden angegangen, wenn sie entstehen. Das Tempo, mit dem Einigungen gefunden würden, hinge dabei stark davon ab, wie schnell sich die Staaten untereinander auf gemeinsame Positionen verständigen könnten. In einigen Bereichen könnte dies zu Stillstand führen.
Die EU-Staaten konzentrieren sich nur noch auf den Binnenmarkt, vor allem auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr. In anderen Bereichen werden keine gemeinsamen Lösungen mehr gesucht, die Regierungen können individuell Entscheidungen treffen. Ihre Zusammenarbeit organisieren die Staaten bilateral untereinander und je nach Interessenlage. Für jede neue EU-Regelung werden zwei bestehende zurückgezogen. Die EU als Ganzes wird in zahlreichen internationalen Organisationen nicht mehr vertreten sein.
Im Grundsatz arbeitet die EU weiter wie bislang, es müssen aber nicht mehr alle Staaten bei Allem mitmachen. Stattdessen bekommt eine Reihe von Staaten die Möglichkeit, in einzelnen Bereichen, etwa bei der Verteidigung oder bei Sozialem, enger zusammenarbeiten. In der Praxis liefe dies auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hinaus. Im Ansatz - etwa bei den 19 Staaten, die sich den Euro als Gemeinschaftswährung gegeben haben - gibt es das bereits.
Die EU würde sich nicht mehr um eine große Bandbreite an Themen kümmern. Gemeinschaftsregelungen sollten demnach nur noch in einigen als wichtig identifizierten Bereichen gefunden werden. Welche das sein könnten, ist offen. In den ausgewählten Politikfeldern würde die EU aber mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, so dass Ergebnisse schneller und effizienter erzielt werden könnten.
Diese Modell stellt eine Art Vereinigte Staaten von Europa dar. Die 27 Länder einigen sich darauf, mehr Entscheidungsgewalt aus den Hauptstädten abzugeben und Beschlüsse gemeinsam zu treffen. Grundlage hierfür ist die Annahme, dass weder die EU in ihrer bestehenden Form, noch isoliert handelnde europäische Staaten den weltweiten Herausforderungen gewachsen sind. In der Folge könnten Gemeinschaftsentscheidungen deutlich schneller getroffen und umgesetzt werden. In Teilen der Bevölkerung, die der EU die Rechtmäßigkeit absprechen oder finden, dass den Nationalstaaten bereits zu viel Macht abhanden gekommen ist, dürfte das aber Unmut auslösen, hieß es in dem Papier.
„Die Europäische Union ist mehr als eine mehr oder weniger gehobene Freihandelszone“, sagte Juncker vor den Europaabgeordneten in Brüssel. Mit Blick auf eine radikale Rückbesinnung auf den gemeinsamen Binnenmarkt, ohne weitere politische Zusammenarbeit, erklärte er: „Meine Lösung ist das nicht!“
Die EU-Kommission sieht sich angesichts wachsender Kritik aus den Hauptstädten wegen einer „Überregulierung“ aus Brüssel unter Druck. In einzelnen EU-Staaten wie etwa Österreich, den Niederlanden und Frankreich verzeichneten EU-Kritiker und -Feinde zuletzt teils deutlichen Zulauf. Im vergangenen Sommer votierten die Briten zudem für einen Austritt aus der Union. Der offizielle Antrag dafür wird in den kommenden Wochen erwartet.
Die Ideen sollen nun als Grundlage für eine Debatte über künftige EU-Reformen dienen. Sie seien der Anfang einer grundsätzlichen Auseinandersetzung, betonte die EU-Kommission. Die Staats- und Regierungschefs sollen zum ersten Mal beim Spitzentreffen am 25. März in Rom darüber beraten. Anschließend soll die Diskussion unter anderem in den einzelnen Mitgliedstaaten fortgeführt werden.