Kaum eine Botschaft hören die Bürger der europäischen Industrienationen so oft und unwidersprochen wie die von der Bildung als „Schlüssel für die Teilhabe an der Gesellschaft“. Die Bundeskanzlerin verkündet dies ebenso wie alle möglichen anderen Polit-Größen. Wer in der Arbeitswelt der Gegenwart und erst recht der Zukunft bestehen wolle, der müsse „lebenslang lernen“. Mit diesem allgegenwärtigen Ceterum Censeo von Politikern, so genannten Bildungsökonomen und sonstigen Experten werden Eltern schon für ihre Unterdreijährigen kirre gemacht, Schüler werden auf ihre Funktion als künftige Erwerbstätige hin dressiert und Erwerbstätige zu immer neuen Höchstleistungen der Effizienzsteigerung getrieben.
Das ist Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker ist ein Veteran auf dem Europa-Parkett. Als er im Dezember 2013 nach 18 Jahren aus dem Amt des Premierministers im Großherzogtum Luxemburg schied, war der Christsoziale der seit langem dienstälteste Regierungschef in der Europäischen Union.
Kurz nach Ende seines Jurastudiums war Juncker als 28-Jähriger Mitglied der Regierung geworden - und geblieben, bis Liberale, Sozialdemokraten und Grüne mit vereinten Kräften schließlich eine Anti-Juncker-Koalition schmiedeten. Von 2005 bis 2013 war er auch Vorsitzender der Eurogruppe, der die Finanzminister der Staaten mit Euro-Währung angehören.
Juncker gilt als Europäer aus Leidenschaft. Als Sohn eines in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiven Bergwerkspolizisten und als Bürger eines einst von deutschen Soldaten besetzten Landes sieht er die EU als wichtiges Friedensprojekt und als Garanten für sozialen Ausgleich. Er ist ein intimer Kenner der internen Abläufe und Befindlichkeiten innerhalb der EU und war sowohl einer der „Erfinder“ als auch Krisenmanager des Euro.
Was die einen als Vorteil sehen, erscheint anderen als Nachteil: Für den ehemaligen britischen Premierminister David Cameron und andere Kritiker ist Juncker die Verkörperung einer „alten“, entrückten und überregulierten EU.
Juncker hat mehrfach erklärt, er fühle sich dem Amt gesundheitlich gewachsen. Nach Äußerungen des niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem, Juncker sei „ein verstockter Raucher und Trinker“, erklärte er, er habe kein Alkoholproblem.
Wenn man die überstrapazierten Begriffe der Bildung und des Lernens ernst nimmt, dann kann es dabei nicht nur um den Erwerb von Wissen oder so genannten Kompetenzen gehen. Das Ziel von Bildung, da sind sich die Bildungstheoretiker ziemlich einig, sollte nicht nur ein möglichst einträglicher Job, sondern der Gewinn eines auf Wissen, Nachdenken und eigenen Erfahrungen beruhenden Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zum Rest der Welt sein. Die großen Bildungsromane der Weltliteratur – von Goethes „Wilhelm Meister“ bis Hesses „Narziß und Goldmund“ - offenbaren das ebenso wie der Volksmund: Aus Erfahrung und erst recht aus Fehlern wird man klug.
Könnte man einen Bildungsroman, also die Geschichte des erfahrungsgesättigten Klugwerdens am Beispiel der beiden vielleicht wichtigsten und jedenfalls dienstältesten Führungspolitiker der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker und Angela Merkel, schreiben? Wohl kaum.
Sicherlich kann Juncker auf einen unvergleichlichen Erfahrungsschatz an Europa-Politik zurückgreifen. Den erwähnte er auch nicht ganz uneitel in seiner „Rede zur Lage der Union“ am Mittwoch. Das von ihm vorgestellte „persönliche Szenario“ beruhe, so Juncker, „auf jahrzehntelangen persönlichen Erfahrungen“: „Ich habe gute Zeiten, aber auch schlechte erlebt. Ich habe an vielen Seiten des Verhandlungstisches gesessen – als Minister, als Premierminister, als Präsident der Euro-Gruppe und nun als Kommissionspräsident. Ich war in Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon dabei, als sich unsere Union weiterentwickelt und erweitert hat. Ich habe stets für Europa gekämpft. Manchmal mit Europa und an Europa gelitten und verzweifelt. Ich bin mit der Europäischen Union durch dick und dünn gegangen – und nie habe ich meine Liebe zu Europa verloren.“
Doch ganz offensichtlich hat er in all diesen Jahren einige Erfahrungen entweder ignoriert oder ist aus ihnen zumindest nicht klüger geworden. Wie ist sonst zu erklären, dass er nur wenige Sätze später die Ausweitung der Euro-Zone auf alle Mitgliedsstaaten fordert? Und dies ausgerechnet mit der Begründung einleitet: „Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, ...“. Nach 18 Jahren voller Erfahrung mit der allzu offensichtlichen Unangemessenheit der Gemeinschaftswährung für Griechenland und andere Mitgliedsstaaten, die in einer immer noch unbewältigten Dauerkrise mündeten, und eine Welle des öffentlich zelebrierten Hasses auf deutsche und andere europäische Politiker hervorrief, hält Juncker eisern an dem längst widerlegten Irrglauben an die einigende Kraft des Euro fest.
Euro gescheitert? Also mehr Euro!
Und nicht nur das. Auch das spätestens in der so genannten Flüchtlingskrise 2015/16 offensichtlich gewordene Scheitern des Schengen-Systems der offenen EU-Binnengrenzen weigert sich Juncker ganz offensichtlich zur Kenntnis zu nehmen. O-Ton Juncker: „Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.“
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Wieviel Lernunwille ist notwendig, um nach den Erfahrungen der Eurokrise und angesichts des nicht funktionierenden Grenz- und Migrationsregimes der EU, der Entscheidung der Briten für den Brexit und dem Anwachsen EU-skeptischer bis –feindlicher politischer Bewegungen in fast allen Mitgliedsstaaten eine solche Rede zu halten? Eine Rede, die angeblich „die Lage der Union“ zum Inhalt hat, aber nicht die geringste Einsicht in ganz offensichtliche Holzwege der europäischen Integrationspolitik zeigt. Stattdessen spricht er von „Wind in unseren Segeln“.
Junckers Rezept für europäische Politik erinnert an einen unbelehrbaren Trotzkopf: Schengen versagt, also mehr Schengen. Der Euro ist gescheitert, also mehr Euro. Die EU-Staaten driften auseinander, also mehr Integration.
Doch Juncker ist mit dieser Strategie der Verweigerung gegen das Lernen aus Erfahrung in Europa nicht allein. Die Bundeskanzlerin macht es schließlich ähnlich.
Noch vor weniger als einem Jahr, beim CDU-Bundesparteitag im Dezember in Essen hatte sie der verunsicherten Parteibasis in einer bemerkenswerten Rede ein vernehmbares Signal der Einsicht eigener Fehler gegeben: "Eine Situation wie im Sommer 2015 darf sich nicht wiederholen." Dieser Satz schaffte es als zentrale Botschaft auch ins Wahlprogramm der CDU.
Zuvor, am 19. September 2016, nach der katastrophalen Wahl in Berlin hatte sie sogar noch selbstkritischer geklungen: "Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen", sagte sie. "Die Situation hat uns im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet getroffen", und am erstaunlichsten: "Wir hatten eine Zeit lang nicht ausreichend die Kontrolle."
Doch davon will die Kanzlerin nun offenbar nichts mehr wissen. Sie würde alles wieder so machen, wie sie es 2015 getan hat, verkündete sie in jüngster Zeit mehrfach.
Aus Fehlern klug werden? Lebenslang lernen? Was für normale Menschen ein Bildungsprozess ist und für Erwerbstätige die Voraussetzung des Bestehens am Arbeitsmarkt, scheint für den Erfolg als Spitzenpolitiker in Deutschland und Europa nicht relevant zu sein. An der Spitze der Bundesregierung und der Europäischen Kommission kann man ganz offensichtlich auch dann bleiben, wenn man offen zeigt, dass man nichts lernt und aus Erfahrung nicht klüger wird.