Norbert Tofall „Ohne Entschuldung der Eurozone wird die EU nicht überleben“

Quelle: dpa

Der Konflikt zwischen Süd- und Nordeuropa um Vergemeinschaftung und Schuldenpolitik führe früher oder später ins Desaster, sagt der Ökonom Norbert Tofall. Um die EU zu retten, müsse die Eurozone entschuldet werden.

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Norbert Tofall ist seit 2014 Analyst am Flossbach von Storch Research Institute. Von 2004 bis 2011 war er Lehrbeauftragter der Viadrina Frankfurt/Oder im Studiengang „Master in International Management“ und zwischen 2008 und 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler (FDP).

WirtschaftsWoche: Herr Tofall, der Kampf gegen die Coronakrise hat den Konflikt zwischen den nördlichen und südlichen Ländern der Europäischen Union angeheizt. Fliegt die EU bald auseinander?
Norbert Tofall: Der Zusammenhalt der gesamten EU ist gefährdet. Die Unterschiede im Wirtschaftswachstum und bei der Staatsverschuldung zwischen den nördlichen und südlichen Ländern in der Eurozone dürften sich im Zuge der Corona-Krise weiter vergrößern. Und das passiert unabhängig von der Frage, ob Eurobonds ausgegeben oder andere Finanzhilfen für Länder wie Italien und Spanien aktiviert werden.

Welches Land vertritt welche Position?
Italien und andere Länder wollen eine ultralockere Geldpolitik, keine fiskalischen Begrenzungen und Gemeinschaftshaftungen für Schulden. Die Niederlande, Österreich, Deutschland und andere nördliche Länder wollen das genaue Gegenteil.

Im europäischen Fiskalpakt steht geschrieben, dass der Staatshaushalt der Länder ausgeglichen sein oder einen Überschuss ausweisen muss.
Das ist aktuell natürlich unmöglich. Unter außergewöhnlichen Umständen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die Lage der öffentlichen Haushalte haben, dürfen die Mitgliedsländer von dem Ziel abweichen. Die jetzige Krise fällt gewiss darunter. Das heißt aber eben auch, dass eine Schuldenbegrenzung in der EU und insbesondere in der Eurozone auf absehbare Zeit purem Wunschdenken entspricht.

Was heißt das in Zahlen?
Allein die Bundesrepublik hat in einem Nachtragshaushalt Nettokredite im Wert von 156 Milliarden Euro beschlossen. Zulässig wären nach der deutschen Schuldenbremse maximal 62,1 Milliarden Euro. Der bisherige Bundeshaushalt für 2020 hatte eine Höhe von 362 Milliarden Euro, der neue beträgt 484,5 Milliarden.

Wird es dabei bleiben?
Das ist offen. Ich gehe aber von einer weiteren Aufstockung der Hilfsprogramme in Deutschland aus. Dann könnten wir bei 300 bis 400 Milliarden Euro anstelle von 156 Milliarden landen. 2019 hatten wir eine Staatsschuldenquote von 59 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die dürfte nach Schätzungen der Bundesregierung auf mehr als 75 Prozent ansteigen.

Und wenn die Krise überstanden ist – glauben Sie, dass die Verschuldungsregeln dann wieder eingehalten werden?
Von wieder kann keine Rede sein. Obwohl der europäische Fiskalpakt seit dem 1. Januar 2013 in Kraft war und selbst Italien eine Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen hatte, haben die Mechanismen auch vor der Coronakrise die Schulden vieler Euroländer nicht gebremst. Italien hatte schon kurz vor Weihnachten 2018 die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts und des Fiskalpakts mit Segen der EU-Kommission de facto außer Kraft gesetzt. Und auch 2019 hat das Land eine Politik verfolgt, welche die weitere Aufweichung der europäischen Verschuldungsregeln zum Ziel hatte.

Wie war dieser Regelbruch möglich?
Es gibt einen grundsätzlichen Widerspruch, der leider oft nicht beachtet wird. Der besteht darin, dass die vom Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt geforderte und durch die europäischen Schuldenbremsen konkretisierte fiskalpolitische Schuldendisziplin seit Jahren durch die Geldpolitik der EZB konterkariert wurde. Niedrig-, Null- und Negativzinsen sowie Anleihekaufprogramme haben massive Anreize für immer mehr Schulden erzeugt.

Italien fordert vehement Corona-Bonds. Womit kann die Regierung in Rom drohen?
Die Frage ist, ob, wann und von wem in Italien die Karte der Einführung einer staatlichen Parallelwährung – Stichwort: MiniBots – wieder gezogen wird, um so mit dem ungeregelten Auseinanderbrechen der Eurozone zu drohen. Dieses Erpressungsspiel spielen die Italiener seit 2018 sehr erfolgreich.

„Dann dürfte auch die EU am Ende sein“

Immer mit der über allem schwebenden Frage: Wer zahlt für wessen Schulden?
Der Frontverlauf ist sowohl geld- als auch fiskalpolitisch der gleiche. Seit der Eurorettungspolitik wird das Konfliktpotential immer größer. Dieses Konfliktpotential ist der Spaltpilz in der Eurozone.

Aber daran zerbricht die Währungsunion doch nicht.
Doch. Denn es handelt sich um den wachsenden Spaltpilz des gesamten europäischen Einigungsprozesses. Diese Frage berührt weitreichende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Grundüberzeugungen und fordert unterschiedliche Lebensweisen heraus. Diesen wachsenden Spaltpilz durch allgemeinverbindliche Regeln wie dem europäischen Fiskalpakt zu entgiften, ist leider bereits vor der Corona-Krise misslungen. Jetzt könnte dieser Spaltpilz im Zuge der Corona-Krise zum exponentiellen Wachstum ansetzen und die Eurozone sprengen.

Wie das?
Setzen sich Italien und die südeuropäischen Länder durch, könnten die Nordländer mit Ausnahme von Deutschland nach einer längeren Phase des Leidens die Währungsunion verlassen. Setzen sich die Niederlande und die Nordländer durch, wird zumindest Italien eher früher als später aus dem Euro austreten. Wahrscheinlich ist Erstes, weil die Südländer größeres Zerstörungspotenzial haben. Einige nördliche Länder würden in dem Fall nach einer langen Phase der finanziellen Repression und des ökonomischen Niedergangs aus dem Euro austreten.

Das klingt nach einem sehr düsteren Szenario.
So oder so: Bricht die Währungsunion ungeregelt auseinander, dann dürfte auch die EU am Ende sein.

Was schlagen Sie vor, um die EU zu retten?
Wir müssen die Eurozone entschulden. Nur so können wir die Union als Friedensprojekt erhalten und sie gleichzeitig ökonomisch erfolgreicher aufstellen. Das klingt auf den ersten Blick utopisch ...

... auf den zweiten nicht?
Viele europäische Regierungen, die panikartig den Status quo bewahren wollen, müssen erkennen, dass die Entschuldung der Eurozone im gemeinsamen Interesse der Süd- und Nordländer ist. Wenn der Währungsraum entschuldet wäre, wären sowohl europäische Staatsschuldenhilfen als auch die Niedrigzinspolitik der EZB unnötig. Der Streit, wer wie wessen Staatsschulden zahlt, wäre hinfällig. Zumindest für die nächsten Jahre.

Wie stellen Sie sich die Entschuldung konkret vor?
Sie sollte in einem einzigen Schritt erfolgen, der aus drei gleichzeitig umzusetzenden Elementen besteht. Dem Chicago-Plan von 1933 folgend sollte die EZB erstens die Staatsschulden der Euroländer auf ihre Bilanz nehmen. Zweitens sollte die Notenbank den Bürgern der Eurozone sichere Bankeinlagen durch eine 100-prozentige Deckung mit Zentralbankgeld ermöglichen und einen digitalen Euro als Vollgeld schaffen. Ein digitaler Vollgeldeuro würde politische Manipulationen des Zinses erschweren.

Was ist das dritte Element?
Konkurrierende Privatwährungen wie Kryptowährungen müssen zugelassen werden. Können die Bürger vom Euro auf private Währungen umsteigen, entsteht Währungswettbewerb. Dieser diszipliniert die EZB, nicht zu viele Euros zu schaffen. Das stabilisiert die Kaufkraft des Euros.

Wie wollen Sie verhindern, dass das Spiel der lockeren Geld- und Schuldenpolitik danach wieder von vorne losgeht?
Zum einen wie gesagt durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen, zum anderen durch die Einführung sicherer Bankeinlagen, die zu 100 Prozent durch Zentralbankgeld gedeckt sind. Banken können dann wie andere Unternehmen in einer Marktwirtschaft auch in Konkurs gehen. Denn das Geld der Sparer ist sicher. Der Kunde muss der Abwicklungsbehörde lediglich ein Konto bei einer anderen Bank nennen, auf das die sichere Einlage transferiert wird. Ein digitaler Vollgeldeuro führt außerdem dazu, dass die Geldmenge mittels einer in einem Algorithmus niedergelegten Regel – beispielsweise dem Potentialwachstum in Sinne von Milton Friedman – ausgeweitet wird und nicht aufgrund politischer Opportunitäten.

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