Es ist zugleich unwahrscheinlich, dass sich Brüssel auf eine längere Verschiebung einlassen wird. Diese könnte schließlich komplexe rechtliche und politische Folgen haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nahm kein Blatt vor den Mund, als er kürzlich erklärte, er werde eine Verschiebung blockieren, falls daran nicht „deutliche Ziele“ geknüpft seien. „Wir brauchen nicht Zeit, wir brauchen Entscheidungen.“
Übernehmen die Abgeordneten jetzt die Kontrolle über den Brexit-Prozess?
Theresa Mays erneutes Scheitern macht es wahrscheinlicher, dass die Abgeordneten versuchen könnten, die Kontrolle über den Brexit-Kurs von der Regierung zu übernehmen. Das könnten sie über Anträge im Parlament erreichen.
Dagegen werden sich allerdings die Brexit-Hardliner nach Kräften wehren. Sie befürchten, dass das Land sonst auf einen sanfteren Brexit zusteuern könnte.
Ein Austritt, bei dem das Land dauerhaft in einer Zollunion mit der EU verbleiben würde, könnte im Unterhaus mehrheitsfähig sein. Einen solchen Brexit strebt auch Labour an, die wichtigste Oppositionspartei.
Ist Theresa Mays Zeit als Premierministerin vorbei?
Der Brexit ist Mays wichtigstes (böse Zungen würden sagen: ihr einziges) politisches Projekt. Dass ihr mühselig mit der EU ausgehandeltes Abkommen nun zum zweiten Mal so eindeutig gescheitert ist, müsste eigentlich ihr politisches Ende bedeuten.
Aber Theresa May hat ein ausgesprochenes Talent, Rückschläge zu ignorieren. In ihrer Zeit als Premierministerin hat sie mehrere schwere Schlappen ausgesessen. Und ihre selbstsichere Reaktion direkt nach der schweren Niederlage am Dienstagabend sprach Bände. Dass sie zurücktreten könnte, erscheint ausgesprochen unwahrscheinlich.
Drei Szenarien, wie es jetzt mit dem Brexit weitergeht
Die Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist über Ende März hinaus ist nach Artikel 50 des EU-Vertrags durchaus möglich und politisch letztlich auch wahrscheinlich. Allerdings müssten die 27 bleibenden EU-Staaten einen britischen Antrag einstimmig billigen. Und die wollen ein solches Anliegen nach eigenem Bekunden nicht einfach durchwinken.
Eine Hürde ist der Termin für die Europawahl vom 23. bis 26. Mai: Als EU-Mitglied müsste Großbritannien am 2. Juli Abgeordnete zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments schicken. Denkbar sind deshalb zwei Varianten: eine kurze Verlängerung um wenige Wochen - in der Hoffnung auf eine Wende oder Lösung in London. Oder eine längere Verschiebung als eine Art Denkpause.
May bekannte selbst, dass eine Verschiebung „ohne Plan“ die Probleme kaum mindern würde. Niemand kennt eine Alternative zu dem abgelehnten Abkommen, und in wenigen Wochen wäre auch kein neues auszuhandeln. Am Ende der verlängerten Austrittsfrist würde doch nur wieder die Drohung eines Chaos-Brexits stehen, sagte May und resümierte: „Die Optionen sind trostlos.“
Der Europäische Gerichtshof hat den Weg aufgezeigt: Die britische Regierung könnte ihren 2017 gestellten Austrittsantrag bis zuletzt einseitig zurückziehen. Politisch gilt das jedoch als unwahrscheinlich. Nötig wäre wohl ein zweites Referendum, um so eine Kehrtwende zu legitimieren. May ist strikt dagegen und warnt vor einem Vertrauensverlust in die Demokratie, nachdem die Briten 2016 mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt hatten.
Die Labour-Opposition ist für eine neue Volksabstimmung, mobilisiert aber bisher im Unterhaus keine Mehrheit dafür. Einige in der EU sehen das trotzdem als Option. „Für eine erneute Befragung der Bevölkerung spricht auch, dass - anders als im Jahr 2016 - die Brexit-Folgen heute deutlich klarer sind: keiner der versprochenen Vorteile, aber Unsicherheit und Arbeitsplatzverluste“, meinte zum Beispiel der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sieht immerhin auch eine gestiegene Wahrscheinlichkeit, dass der Brexit ausfällt.
Auch die Gefahr eines Ausscheidens ohne Abkommen ist aus Sicht der EU größer geworden. Sowohl May als auch die EU stemmen sich wegen des befürchteten Chaos gegen dieses Szenario. Doch wenn Großbritannien und die EU nicht aktiv die Bremse ziehen, endet die britische EU-Mitgliedschaft automatisch am 29. März um 24.00 Uhr Brüsseler Zeit. Auch im britischen EU-Austrittsgesetz ist dieses Datum als Brexit-Termin festgeschrieben und müsste gestrichen werden.
Eine Mehrheit im Unterhaus hat einen Brexit ohne Vertrag bereits einmal abgelehnt. Fehlt nun nur noch die Ansage, was sie stattdessen will.
Zu einem Rücktritt zwingen kann sie ihre Partei derzeit ebenfalls nicht. Da Ende des Jahres ein parteiinterner Putschversuch der Brexit-Hardliner gescheitert ist, ist May gemäß Parteistatut bis zum kommenden Dezember vor einem weiteren Umsturzversuch sicher.
Auch ein weiteres Misstrauensvotum im Parlament (wie im Januar) würde sie vermutlich erneut überstehen. Allem parteiinternen Gezanke zum Trotz gibt es bei den Tories kein erkennbares Interesse, ausgerechnet jetzt Neuwahlen zu riskieren.
Daher könnte sich das Brexit-Drama ein weiteres Mal im Kreis drehen: Sollten die Abgeordneten in den kommenden Tagen nicht die Kontrolle über den Brexit-Kurs übernehmen und sollte sich die EU auf eine kurze Verschiebung des Brexit-Termins einlassen, wird May wohl ein weiteres Mal versuchen, mit Brüssel über den Nordirland-Backstop zu verhandeln.
Spätestens dann würden die Bemühungen Großbritanniens, die EU zu verlassen, endgültig zur Farce verkommen.
Wären nicht ein zweites Referendum ein Ausweg?
Die Befürworter eines zweiten EU-Referendums erhalten seit einiger Zeit Auftrieb. Aus gutem Grund: Immer mehr Umfragen deuten darauf hin, dass sich mittlerweile eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU aussprechen würde. Die Brexit-Hardliner lehnen ein solches Referendum daher vehement ab.
Seit Kurzem betrachtet auch die Labour-Führung ein solches Referendum als möglichen Ausweg aus der Brexit-Krise. Doch dabei wird es auf das Timing ankommen: Eine zu früh angesetzte Abstimmung im Unterhaus würde vermutlich scheitern. Denn auch bei Labour gibt es eine Reihe von Brexit-Hardlinern, die ein zweites Referendum ablehnen. Bei den Tories dürfte sich derzeit nur eine Handvoll von Rebellen dafür aussprechen.
Dauert die Krise allerdings an und zeichnet sich keine andere Lösung ab, könnte sich eine Mehrheit der Abgeordneten für ein zweites Referendum aussprechen.