Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ist etwas gelungen, womit kaum noch jemand gerechnet hatte. Nein, es geht ausnahmsweise nicht um deutsche Panzerlieferungen in die Ukraine. Macrons Paradestück ist, dass er vermeintlich geschwächte und teils sogar verfeindete französische Gewerkschaften nach Jahren wieder gemeinsam auf die Straße bringt. Und mit ihnen Millionen Bürger.
Das ist gefährlich. Auch für Deutschland, auch für Europa. Falls Frankreich in den nächsten Wochen erneut still steht im Generalstreik gegen eine Rentenreform, dann ist das kein scheinbar bekanntes Ritual oder ein bisschen Folklore. Es unterstreicht das Scheitern eines Mannes, der 2017 als junger Hoffnungsträger und Reformer angetreten war, aber seither vielfach Enttäuschung und Widerstand entfachte.
2017 hatte Macron seinen Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl und dann den Sieg einer Reihe von für ihn außergewöhnlich glücklichen Umständen zu verdanken. 2022, in einem bereits extrem gespaltenen Land, schmolz sein Vorsprung vor der rechtsextremen Gegenkandidatin Marine Le Pen weiter zusammen. Bei der Parlamentswahl ein paar Wochen später verlor Macrons Partei die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Viele Franzosen votierten ausdrücklich für den „Rassemblement National“ von Marine le Pen oder die linke Gruppierung des „aufmüpfigen Frankreich“, um die Entscheidungsmacht des Präsidenten zu beschneiden.
Doch an Stelle des von Macron noch in der Nacht seiner Wahl angekündigten Stilwechsels und dem Versprechen, auf Gegner und Skeptiker zuzugehen, ist das Parlament häufig Schauplatz eines von Beobachtern so getauften „Dialogs der Tauben“. Mehrheiten lassen sich, wenn überhaupt, nur nach langen Verhandlungen finden. Beinahe ein Dutzend Mal hat die von Macron ernannte Regierungschefin Elisabeth Borne seit Juni zu einem Verfassungsartikel gegriffen, mit dessen Hilfe das Parlament übergangen werden kann: Eine durch zahlreiche Änderungsanträge ausufernde Debatte wird kurzerhand für beendet und die Gesetzesvorlage für verabschiedet erklärt. Die Abgeordneten können sich dagegen nur mit einem Misstrauensvotum wehren, das im Falle eines Erfolgs zum Sturz der Regierung führen würde.
Seinem wichtigsten Reformprojekt, der Neugestaltung der Rentenversicherung, hat Macron nach eigener Anschauung bereits vor der Parlamentsdebatte ausreichend Kompromissbereitschaft angedeihen lassen. Anstatt der von ihm gewünschten Anhebung des Renteneintrittsalters von heute 62 auf 65 Jahre sollen Französinnen und Franzosen schrittweise bis zum Jahr 2030 um zwei Jahre länger arbeiten. Schon ab 2027 müssen für eine abschlagsfreie Rente zudem 43 Beitragsjahre vorliegen – 1,5 Jahre mehr als derzeit. Ausnahmen sollen lediglich für Berufe mit schwerer körperlicher Arbeit gelten, bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für Menschen, die sehr früh ins Erwerbsleben eingetreten sind.
Die Regierung argumentiert, anders sei die drohende Milliardenlücke in den Rentenkassen nicht zu schließen. Zumal künftig eine Mindestrente von 1200 Euro ausbezahlt werden soll. In Frankreich ist die Alterung der Gesellschaft zwar nicht so gravierend fortgeschritten wie in Deutschland, doch auch dort sinken die Geburtenraten, und die Arbeitslosigkeit ist mehr als doppelt so hoch wie hier zu Lande. Deshalb fehlen Sozialbeiträge.
Mit gut 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und mehr als 40 Prozent aller Sozialausgaben erreicht Frankreich schon heute Spitzenwerte bei der Finanzierung der Rentenkassen. Die Abgaben für die staatliche Altersvorsorge betragen 28 Prozent des Bruttolohns, wobei der Arbeitgeber 60 Prozent beisteuert. Zum Vergleich: In Deutschland sind es bis zur Beitragsbemessungsgrenze 18,6 Prozent, die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte teilen.
Nur zwei Jahre mehr – für viele Deutsche, die bald bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten sollen, mag die Aufregung der Nachbarn an Hysterie grenzen. Macron jedoch hat laut jüngsten Umfragen zwischen 68 und 72 Prozent der Franzosen gegen sich. Die Reform sei ungerecht, ist das am häufigsten genannte Adjektiv. Auch 40 Prozent der Anhänger Macrons benutzen es, und selbst Abgeordnete der Regierungspartei erheben kritische Stimmen.
Das fehlende Interesse von Unternehmern an der Beschäftigung älterer Menschen wird angeführt. Nur etwas mehr als ein Drittel der 60- bis 64-Jährigen sind in Frankreich erwerbstätig. Zudem wird die Benachteiligung von Müttern kritisiert, denen Erziehungszeiten auf die Füße fallen. Das vom Staatschef vorgetragene Argument, er habe die Reform bereits vor der Wahl angekündigt, sein Sieg legitimiere also die Umsetzung seiner Pläne, wird von 71 Prozent der Befragten entschieden verneint: Er sei vor allem gewählt worden, um Marine le Pen an der Spitze des Staates zu verhindern.
Die Politikerin winkt übrigens mit einer Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre. So stellt sich nicht nur die Frage, ob und in welcher Form Macron seinen Willen dieses Mal durchsetzen kann – sondern auch erneut, wohin er Frankreich in den verbleibenden vier Jahren seiner zweiten und letzten Amtszeit politisch und wirtschaftlich noch steuern kann. Dieses Land, das nach den Worten seines Präsidenten unabhängiger in einem stärkeren Europa werden soll, „indem wir durch Investieren und einen tiefen Wandel Fortschritte für jeden erreichen, indem wir noch kreativer und innovativer werden und eine große ökologische Nation schaffen“.
Der Konsens dafür scheint abhanden zu kommen, Platz zu machen für das Recht des Stärkeren. Da überrascht es, dass zuletzt von verschiedenen Seiten in Deutschland lobend auf den Nachbarn verwiesen wurde, wie entscheidungsfreudig und tatkräftig man dort ans Werk gehe. Gern, um ein tatsächliches oder auch nur empfundenes Zaudern und Zögern in Berlin zu kritisieren.
Allein in den vergangenen drei Monaten haben Streiks von niedergelassenen Ärzten sowie Beschäftigten von Raffinerien, Kernkraftwerken, Bahn und Nahverkehr mehrfach den Alltag in Frankreich schwer beeinträchtigt. Bei der Rentenreform meinen alle Beteiligten, sie hätten viel zu verlieren. Umso unversöhnlicher sind die Positionen.
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