Vor dem EU-Gipfel Nur noch 365.000 Flüchtlinge pro Jahr?

Angela Merkel kämpft in Brüssel um ihre europäische Lösung. Wie der Zustrom auf 365.000 Menschen pro Jahr begrenzt werden könnte und warum der Deal mit der Türkei rechtlich bedenklich ist. Sechs Fragen und Antworten.

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Idomeni an der griechischen Grenze nach Mazedonien: Die zigtausenden Menschen, die hier campieren, haben vermutlich keine Aussicht auf Weiterreise nach Deutschland. Quelle: dpa

Wie soll der Deal zwischen EU und Türkei funktionieren?

 Alle Flüchtlinge, die illegal nach Griechenland einreisen, sollen in die Türkei zurückgebracht werden. Im Gegenzug verpflichtet sich die EU für jeden zurückgeführten Syrer einen Syrer aus einem türkischen Camp auf legalem Weg aufzunehmen. Die Absicht dahinter ist die Abschreckungswirkung: Jeder, der illegal in die EU einreist, muss zurück – ohne Ausnahme. Zudem könnte die Türkei zurückgeführten Syrern verbieten, sich für eine legale Einreise in die EU zu bewerben.

 Was verlangt die Türkei?

Vor allem Geld. Die EU-Staaten sollen bis 2018 sechs Milliarden Euro an Ankara überweisen, um die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei sicherzustellen. Vor wenigen Wochen ging es noch um drei Milliarden Euro. Kritiker des Deals befürchten daher, die Türkei könnte die EU dauerhaft finanziell erpressen.

 Außerdem: Visafreiheit. Viele Türken empfinden es als Demütigung, dass sie ein Visum benötigen, wenn sie in EU-Länder reisen wollen. Und: Die EU-Beitrittsverhandlungen sollen ausgeweitet werden.

 Woran könnte der Gipfel scheitern?

 Am Geld und den intensiveren Beitrittsverhandlungen wird der Deal wohl nicht scheitern. Im Vergleich zu den Kosten der Integration der Flüchtlinge in EU-Ländern sind die sechs Milliarden Euro ein vergleichsweise geringer Betrag.

 Die EU-Beitrittsverhandlungen sind zudem eher symbolischer Natur, tatsächlich ist ein Beitritt in den nächsten Jahren ausgeschlossen. „Die Türkei will mit den Beitrittsverhandlungen Stärke demonstrieren“, erklärt Politikwissenschaftler Roy Karadag von der Universität Bremen. „Präsident Erdogan möchte zeigen, dass man außenpolitisch ein derartiges Gewicht hat, wie noch nie in der Geschichte zuvor.“

 Deutlich kniffliger ist das Thema Visaliberalisierung. Eine Reihe von Staaten, darunter Frankreich, warnt davor. Bundeskanzlerin Merkel hingegen will den Türken bereits ab Sommer das Privileg gewähren – ganz zum Missfallen der CSU. Die Christsozialen sind gegen die Visafreiheit für alle Türken und wollen sie auf bestimmte Personengruppen wie Geschäftsleute begrenzen, da sie zusätzliche Einwanderung befürchten. Damit werden sich die Türken kaum zufrieden geben, der nächste Koalitionskrach steht für Merkel also schon bevor.

 Wer nimmt wie viele Flüchtlinge auf?

 Für jeden illegalen Syrer, der von Griechenland zurück in die Türkei muss, soll die EU einen Syrer aus der Türkei legal aufnehmen, also im Rahmen festgelegter Kontingente. Doch wohin mit den legalen Flüchtlingen, die über diese 1-zu-1-Regelung nach Europa kommen? Jedes EU-Land muss eine Ansage machen, wie viele Flüchtlinge es aufnimmt. Wenn das System funktioniert, erwartet man, dass kaum noch Flüchtlinge den gefährlichen Weg über die Ägäis nehmen. Merkel will die Türkei aber nicht mit den Flüchtlingen alleine lassen. Sie fordert, dass jedes Land freiwillig Flüchtlinge zu sich holt – über die 1-zu-1-Regelung hinaus.

Warum die Menschen in Idomeni enttäuscht werden

 Zwischen den EU-Partnern wird darüber diskutiert, jeden Tag rund 1.000 Syrer aus der Türkei in die EU zu holen. Auf ein volles Jahr gerechnet, läge ein gesamteuropäisches Flüchtlingskontingent also bei 365.000 Menschen. Angesichts der 1,1 Millionen Menschen, die Deutschland im Jahr 2015 alleine aufgenommen hat, erscheint die Zahl verkraftbar.

 Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations“ geht davon aus, dass sich ein großer Teil der EU-Staaten in dieser Frage verweigern wird.  „Angela Merkel wird keine Lösung mit allen 28 Staaten hinbekommen“, sagt der Politikwissenschaftler. Für die Kanzlerin gehe es nun darum, Länder wie Belgien, Luxemburg, die Niederlande sowie die nordischen Staaten für ihren Plan zu gewinnen. „Auch Österreich kann weiterhin ein Partner sein – trotz Streit um die Schließung der Balkanroute“, sagt Janning. „Die Kanzlerin wird versuchen jeden Kompromiss als europäische Lösung zu verkaufen, selbst wenn Deutschland als einziges Land Flüchtlinge aufnimmt.“

 Ist der Türkei-Deal mit dem Gesetz vereinbar?

 Menschenrechtsorganisationen wie „Pro Asyl“ werfen den Europäern vor, ihre Prinzipien zu verraten. Und selbst die EU-Kommission zweifelt, ob der Deal rechtlich unbedenklich ist. „Alle Rückführungen müssen im Einklang mit dem Europa- und dem Völkerrecht verankerten Bestimmungen über den Schutz von Flüchtlingen erfolgen“, heißt es in einer Einschätzung der EU-Kommission.

 Griechenland muss die Türkei zunächst zum sicheren Drittstaat erklären, damit alle Flüchtlinge zurückgeführt werden können.  In der Türkei muss dann der Asylantrag jedes Flüchtlings individuell geprüft werden. Pro Asyl bezweifelt, dass die Türkei diese Standards einhalten wird.

Was geschieht mit den Flüchtlingen, die in Griechenland gestrandet sind?

 Für Menschen, die sich derzeit in Idomeni und anderen griechischen Flüchtlingscamps aufhalten, muss Europa eine separate Lösung finden. Die Rückführungsregel mit der Türkei soll nur für Neuankömmlinge gelten. EU-Experte Janning glaubt, dass ein Großteil wohl in Griechenland bleiben muss. „Aus innenpolitischen Gründen kann Merkel nicht alle nach Deutschland holen.“

 Fazit: Die Kanzlerin muss die europäischen Partner von zwei Punkten überzeugen: Visafreiheit für alle Türken und Kontingente für syrische Flüchtlinge. Der Widerstand ist immens. Ob Merkels oft beschworene europäische Lösung Realität wird, entscheidet sich bis zum Wochenende in Brüssel.

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