„Wir gegen Amerika!“ Der Propaganda-Erfolg des Recep Tayyip Erdoğan

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Türkei: „Aus der Finanzkrise wird eine Wirtschaftskrise werden“

Und schließlich ist es die mittlerweile fast völlig gleichgeschaltete Presse, die eine differenziertere oder kritischere Betrachtung für die türkischen Bürger schwer macht. In der ersten Woche, als die Lira abstürzte, wurde das Thema nahezu totgeschwiegen. Später dann griffen die meisten Blätter Erdoğans Parolen vom „Wirtschaftskrieg“ auf, ohne dabei die eigene Wirtschaftspolitik kritisch zu hinterfragen. Erst vergangenen Donnerstag kritisierte Kemal Kiliçdaroğlu, Vorsitzender der CHP, die Wirtschaftspolitik Erdoğans und warf ihm vor, mit dem Fall Brunson nur die eigenen Fehler vertuschen zu wollen.

Tatsächlich ist die türkische Finanzkrise nicht ausschließlich hausgemacht. Sie hat ihren Ursprung in der Zinswende in den USA und den schwelenden, von Trump provozierten Handelskonflikten.

Nur: In der Türkei wurden die Probleme zu lange ignoriert, und Wachstum durch billiges Geld erkauft. Zudem ist Erdoğans Krisenmanagement miserabel. Das liegt vor allem daran, dass er einer äußerst unorthodoxen Theorie anhängt, wonach hohe Zinsen zu einer höheren Inflation führen. Im Mai, als die Inflation bereits auf 12 Prozent geklettert war und die Lira schwächelte, entschloss sich die Zentralbank schließlich zu einer Zinserhöhung von 13,5 auf 16,5 Prozent. Zu spät, zu zaghaft, zu reaktiv – sagten Kritiker. Nach der gewonnenen Wahl Ende Juni wartete die Märkte darauf, dass Mehmet Simsek, Aushängeschild des wirtschaftlichen Sachverstands, einen wichtigen Posten im Kabinett bekäme. Stattdessen machte Erdoğan im Juni seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Finanzminister. Simsek, hieß es am Wochenende, habe sich inzwischen nach London abgesetzt.

Noch ist ein Großteil der türkischen Bevölkerung vom Verfall der eigenen Währung kaum betroffen. Schmerzhaft ist es für die junge türkische Mittelschicht – Leute, die ihren Urlaub in Europa machen wollten, und ihn jetzt wegen zu hoher Kosten absagen mussten, oder Familien, deren Söhne und Töchter auf Universitäten im Ausland zum Studieren schickten, und deren Ausgaben sich nun verdoppelt haben. Doch diese Schicht zählte ohnehin nie zur Stammwählerschaft der AKP.
Die ärmeren und konservativen Leute in der Türkei spüren zwar die Inflation, sind aber auch Krisen gewohnt. Noch Anfang der Nuller Jahre lag die Teuerungsrate bei 90 Prozent. Dass sie in den folgenden Jahren eingedämmt werden konnte, schreibt man der Wirtschaftspolitik der AKP zu.

Das dürfte sich ändern, wenn die Währungsturbulenzen in der Realwirtschaft ankommen. „Aus der Finanzkrise wird eine Wirtschaftskrise werden“, sagt Ronald Schneider von Raiffeisen Capital Management in Wien. „Es wird zwangsläufig zu einer starken Verlangsamung der türkischen Wirtschaft kommen.“ Türkische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren Verbindlichkeiten in Höhe von 220 Milliarden Dollar angehäuft. Durch die schwache Lira steigt die Zinslast der Unternehmen. Auf Dauer werden viele die gestiegenen Kosten nicht tragen können. Die Folge werden Insolvenzen und Entlassungen sein.

Spätestens dann dürften einige merken, dass das Zerschneiden von Dollarscheinen oder die Zerstörung von iPhones niemanden weh tut – außer ihnen selbst.

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