Die Nachricht konnte niemanden mehr besonders überraschen: Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) erwartet laut „Frühjahrsprojektion“ für dieses Jahr nur noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,5 Prozent.
Längst schon haben alle Konjunktur-Auguren ihre Prophezeiungen deutlich nach unten korrigiert. Die Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute vom 4. April lautet 0,8 Prozent. Im Herbst 2018 hatten sie noch 1,9 Prozent für 2019 vorhergesagt. Die Bundesregierung selbst erwartete im Jahreswirtschaftsbericht im Januar noch ein BIP-Wachstum von 1,0 Prozent und in der Herbstprognose im vergangenen Oktober 1,8 Prozent. Im November und Dezember vergangenen Jahres lagen noch alle Prognosen für 2019 weit über einem Prozent.
Erfahrungsgemäß liegen aber im Rückblick selbst kürzerfristige Prognosen oft weit von der Wirklichkeit entfernt. Vor genau einem Jahr, in der Frühjahrsprojektion 2018, hatten Altmaiers Beamte ein BIP-Wachstum für 2018 von 2,3 Prozent vorausgesagt. Tatsächlich wuchs die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr dann nur um 1,5 Prozent. Für 2019 hatte das BMWi damals noch mit 2,1 Prozent gerechnet.
Dass Prognosen korrigiert werden, wenn der Vorhersagezeitraum näherkommt, mag man hinnehmen. Die Korrekturen sind allerdings so drastisch, dass sich die grundsätzliche Frage nach dem Wert mittel- und längerfristiger Vorhersagen stellt. Sowohl der Reigen der Prognose-Korrekturen nach unten, den die gesamte Konjunkturforschung in diesem Frühjahr aufführte, als auch der Vergleich früherer Prognosen mit den späteren tatsächlichen BIP-Zahlen, führt wieder deutlich vor Augen: Die Konjunkturforschung ist alles andere als eine exakte Wissenschaft.
Eine Auswertung historischer Konjunkturprognosen zwischen 1971 und 2015 durch Wissenschaftler der Universität Hamburg und der Hochschule Merseburg kam 2015 zu dem Fazit: Zwei Drittel der Herbst-Gemeinschaftsdiagnosen fürs folgende Jahr lagen näher am späteren tatsächlichen Wirtschaftswachstum als eine „naive Vorhersage“, die einfach den Vorjahreswert annimmt. Dabei gilt: Je kurzfristiger die Prognose, desto näher dran an der späteren Wirklichkeit. Ob das ein Erfolg ist und den enormen Aufwand - in aller Regel vom Steuerzahler finanziert - rechtfertigt, liegt im Auge des Betrachters.
Altmaiers optimistische Prognose für 2020 – 1,5 Prozent – dürfte aller historischen Erfahrung gemäß nicht wertvoller sein als die Annahme, dass bis dahin alles beim Alten bleibt oder sich die Gesamtlage völlig verändert. Denn, wie der Autor der besagten Studie 2015 in einem Interview sagte: „Die größte Schwäche der Konjunkturprognosen ist, dass sie die Wendepunkte verpassen – dann, wenn eine Wirtschaftskrise kommt und die Wirtschaft in die Rezession übergeht.“
Beispiel aus der jüngeren Geschichte: In der Frühjahrsprojektion vom April 2008 hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für 2009 ein Wachstum von 1,2 Prozent vorhergesagt. Die Gemeinschaftsprognose der führenden Institute für 2009 lag damals bei 1,4 Prozent. Bekanntlich kam dann eine scharfe Rezession dazwischen. In der Frühjahrsprojektion 2009 präsentierte Glos‘ Nachfolger Karl Theodor zu Guttenberg schließlich – die Wende hatte unverkennbar stattgefunden – eine radikal erneuerte Prognose von Minus 6,0 Prozent. Doch auch die lag weit neben der später festgestellten wirtschaftlichen Wirklichkeit. Das BIP schrumpfte 2009 „nur“ um 5,1 Prozent.
Dass damals wie heute die Frühjahrsprojektion fürs laufende Jahr etwas niedriger als andere Prognosen liegt, könnte auch mit dessen besonderer Funktion zusammenhängen. Es dient als Grundlage für die Steuerschätzung und damit auch für die Aufstellung der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen verwendet wird. Darum kann durchaus ein Interesse daran bestehen, die entsprechenden Erwartungen im Vorhinein etwas zu dämpfen.