Kapitalismus unter Druck „Kaum jemand ist so antikapitalistisch wie die Deutschen“

„Der Zeitgeist ist antikapitalistisch“, meint Soziologe und Autor Rainer Zitelmann. Quelle: imago-images(2), unsplash

Der Soziologe und Autor Rainer Zitelmann feiert den Kapitalismus, rügt die Leisetreterei vieler Unternehmer – und hält den Einfluss der Superreichen auf die Politik für überschätzt.

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Rainer Zitelmann, 64, ist Soziologe, Unternehmer und Reichenforscher. Für sein soeben erschienenes Buch „Die zehn Irrtümer der Anti-Kapitalisten“ (Finanzbuch-Verlag), hat der gebürtige Frankfurter, der vom Marxisten zum Liberalen wurde, eine Bevölkerungsumfrage in 14 Ländern zur Akzeptanz marktwirtschaftlichen Denkens in Auftrag gegeben.

WirtschaftsWoche: Herr Zitelmann, Ihr neues Buch heißt: „Die zehn Irrtümer der Anti-Kapitalisten“. Fast zeitgleich kommt ein Buch mit dem Titel „Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört“ heraus. Welches wird sich wohl besser verkaufen?
Rainer Zitelmann: Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Der Zeitgeist ist antikapitalistisch. Umso wichtiger ist es, dem zu widersprechen. Das ist für mich wie bei einer Gerichtsverhandlung: Es muss einen Ankläger geben – aber eben auch einen Verteidiger.

Warum verehren Sie den Kapitalismus?
Weil er jeder anderen Wirtschaftsform haushoch überlegen ist. Vor 200 Jahren lebten 90 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es weniger als zehn Prozent. Es hat historisch kein anderes System gegeben, das so viele Menschen aus der Not befreit hat. Trotzdem ist der Kapitalismus in der Weltsicht der politischen Linken in etwa das, was der Teufel für die katholische Kirche darstellt. Alles Böse lässt sich hier abladen: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Ungleichheit, Faschismus, selbst die eigenen psychischen und beruflichen Probleme, wenn es im Leben mal nicht so läuft. Der Sozialismus hingegen sieht auf dem Papier perfekt aus – es sei denn, man schlägt ein Geschichtsbuch auf.

Publizist, Unternehmer und Reichenforscher Rainer Zitelman. Quelle: Presse

Sie haben bei den Meinungsforschungsinstituten Allensbach und Ipsos eine Bevölkerungsumfrage in 14 Ländern über die Haltung zum Kapitalismus in Auftrag gegeben. Was ist herausgekommen?
Dass die größten Fans des Kapitalismus interessanterweise in Polen leben. Hier wirken offenbar die historischen Erfahrungen mit dem Sozialismus nach. Die meisten Anti-Kapitalisten leben – wenig überraschend – in Frankreich. Insgesamt ist nur in vier Ländern die Zahl der Anhänger des Kapitalismus größer als die der Gegner: in den USA, Korea, Japan und eben Polen.
Lesen Sie auch: Für die politische Linke zählt „neoliberal“ in wirtschaftspolitischen Debatten zu den übelsten Schimpfworten. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Der ursprüngliche Neoliberalismus ist ganz anders, als ihn sich seine heutigen Gegner vorstellen: Ist Neoliberalismus gleich Turbokapitalismus?

Und wo steht Deutschland?
Kaum jemand ist so antikapitalistisch wie die Deutschen! Nur bei Spaniern und Franzosen sind die Zustimmungswerte niedriger. Die Umfrage zeigt zudem, dass die Einstellung zu unserem Wirtschaftssystem stark altersabhängig ist. Bei den unter 30-Jährigen unterstützen nur 26 Prozent Pro-Markt-Aussagen, hingegen 40 Prozent Pro-Staat-Aussagen. Bei über 60 Jährigen ist die Spanne deutlich geringer. Allerdings hängt manches auch von der Formulierung der Frage ab.

Wie meinen Sie das?
Das Wort Kapitalismus hat in den meisten Ländern eine negative Konnotation, unabhängig von den Inhalten. Wir haben in der Umfrage daher sechs Fragen gestellt, in denen wir das Wort gezielt vermieden und Kapitalismus nur umschrieben haben. In diesen Fällen nahm die Zustimmung zu marktwirtschaftlichen Prinzipen merklich zu.

Woher kommt die Skepsis gegenüber Markt, Wettbewerb und Eigenverantwortung in Deutschland?
Wenn man in die Wirtschaftsgeschichte schaut, stellt man fest: In seinem Innersten war Deutschland immer staatsgläubig und etatistisch. Was Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft und verändert hat, war historisch eher eine Ausnahme. Wobei ja auch er das Wort „Kapitalismus“ mied, sondern von „sozialer Marktwirtschaft“ sprach.

Setzen Sie Kapitalismus und Marktwirtschaft gleich oder differenzieren Sie hier?
Ich verwende die Begriffe „Marktwirtschaft“ oder gar „soziale Marktwirtschaft“ nicht gern, weil sie zur allgemeingültigen Floskel geworden sind. Heutzutage ist fast jeder für „soziale Marktwirtschaft“ – sogar Sahra Wagenknecht.



Ist Deutschland im Jahr 2022 Ihrer Ansicht nach noch ein kapitalistisches System?
Es gibt nirgendwo auf der Welt den Kapitalismus und den Sozialismus in Reinform. Auch Deutschland ist ein Mischsystem. Wie sich unser Wohlstand künftig entwickeln wird, hängt vom Mischungsverhältnis ab. Ich gehöre nicht zu den libertären Utopisten, die den 100prozentigen reinen Kapitalismus herbeisehen. Aber mehr Markt und weniger Staat – das ist für Deutschland und viele andere Länder richtig und hat sich immer wieder bewährt.

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