Ökonom zu Covid-19 „Ähnliche Auswirkungen auf China wie die Finanzkrise“

Wie lange kann Chinas Wachstum auf Pump noch funktionieren? Quelle: imago images

Der in Peking lebende Ökonom Michael Pettis glaubt, dass sich das Coronavirus nicht deutlich auf die offiziellen Wachstumszahlen Chinas auswirken wird. Laut seiner Vorhersage wird die Regierung stattdessen versuchen, die Folgen mit einem „enormen Anstieg der Investitionen“ auszubügeln. Wie lange kann das Wachstum auf Pump funktionieren?

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WirtschaftsWoche: Herr Pettis, eigentlich sollte diese Woche der Volkskongress in China beginnen, bei dem die Führung auch das Wachstumsziel für dieses Jahr festgelegt hätte. Der Kongress wurde wegen des Coronavirus verschoben. Wie hoch wird Ihrer Meinung nach das Wachstumsziel ausfallen, wenn das Treffen nachgeholt wird? Das Coronavirus müsste ja einen kräftigen Dämpfer für die Wirtschaft bedeuten.
Michael Pettis: Ich denke nicht, dass das offizielle Wachstumsziel stark von den „rund sechs Prozent“ abweichen wird, auf die sich die Führung laut Berichten schon im Dezember auf einer internen Wirtschaftskonferenz verständigt hatte. Dabei wünschen sich viele wirtschaftspolitische Berater der Regierung eigentlich ein eindeutig niedrigeres Wachstum, weil sie Angst vor einer Ausweitung der Schulden haben.

Sie sind bekanntermaßen sehr skeptisch gegenüber Chinas offiziellen Wachstumszahlen eingestellt. Wenn das chinesische Wachstum im vergangenen Jahr also nicht bei 6,1 Prozent lag, wie hoch war es dann wirklich?
Mein Punkt ist nicht, dass die offiziellen Zahlen gelogen sind. Das BIP-Wachstum in China ist allerdings vor allem ein Maß für den Input, der ins System gegeben wird, nicht für den realen Output.

Was heißt das genau?
Aus der grundlegenden Systemtheorie wissen wir, dass nur ein Ausgabemaß etwas über die Leistung eines Systems aussagen kann, während ein Eingabemaß dies niemals kann. In den meisten Ländern würde eine Fabrik, die etwas produziert, das niemand will, nicht gebaut werden. Das gleiche gilt für nutzlose Infrastruktur, weil es in der Regel harte Budgetbeschränkungen gibt.

Ausschlaggebend für das auffällig konstante Wachstum in China ist also der Input. Demnach auch das, was China mit immer neuen Staatshilfen und Konjunkturspritzen in das System pumpt?
In China arbeiten die lokalen Regierungen nicht unter harten Budgetbeschränkungen und schreiben daher niemals unproduktive Wirtschaftstätigkeiten ab. Diese werden stattdessen zum BIP hinzuaddiert, wie es in keinem anderen Land passieren könnte. Deshalb argumentiere ich, dass das Wachstum in China nicht mit dem Wachstum in den meisten anderen Ländern vergleichbar ist.

Wie hoch ist also das reale Wachstum in China aus Ihrer Sicht?
Wenn das BIP auf vergleichbarer Basis berechnet würde, wäre es wahrscheinlich weniger als die Hälfte der gemeldeten Zahl. Wir haben das gleiche Problem in der UdSSR in den Sechziger- und Siebzigerjahren und in Japan in den Achtzigerjahren gesehen. Fast jedes Land, das ein investitionsgetriebenes Wachstumswunder erlebt hat, verzeichnete irgendwann deutlich niedrigere BIP-Zahlen, als es selbst Pessimisten erwartet hatten, weil die Schuldentragfähigkeit überschritten wurde.

Obwohl es Zweifel gibt, sind die Wachstumszahlen der chinesischen Regierung jedes Mal „Breaking News“, wenn sie veröffentlich werden. Und Organisationen wie der IWF verwenden die Daten auch für ihre offizielle Wachstumsprognose. Ist das nicht problematisch?
Es kommt drauf an. Wenn Sie ein Maß für die wirtschaftliche Aktivität oder sogar für nutzlose wirtschaftliche Aktivitäten wünschen, sind die chinesischen Daten ungefähr korrekt. Wenn Sie wissen wollen, was mit der Realwirtschaft passiert, und es auf vergleichbarer Basis verstehen wollen, entsteht ein großes Problem. Die Mainstream-Ökonomen der multilateralen Institutionen verstehen die Systemtheorie leider nicht wirklich und erkennen nicht die Verzerrungen, die durch Systeme entstehen, die nicht unter harten Budgetbeschränkungen arbeiten. Deshalb haben sie auch regelmäßig die Nachhaltigkeit des Wachstums in vielen Ländern überschätzt, die diesem Wachstumsmodell in den letzten sechs bis sieben Jahrzehnten gefolgt sind.



Chinas Wachstumszahlen zeichnen also ein Bild von der Wirtschaft, das aus Ihrer Sicht nicht der Realität entspricht. Welche Probleme werden Ihrer Meinung nach vertuscht?
Das größte Problem liegt wahrscheinlich auf der Schuldenseite.

Hat die chinesische Regierung nicht daran gearbeitet, die hohen Schulden abzubauen? Sind diese Zahlen auch falsch?
Wir alle wissen, dass die Schulden in den Daten unterbewertet sind. Es ist wichtig, zu verstehen, dass Peking zwar seit vielen Jahren verspricht, die Schulden unter Kontrolle zu bringen, es aber keinen einzigen Zeitraum gab, in denen selbst die offizielle Schuldenlast nicht schneller gewachsen ist als die offiziellen BIP-Daten. Angesichts des gegenwärtigen Wachstumsmodells ist es auch unmöglich, die Verschuldung zu stabilisieren.

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