Reformen verschlafen. Seit drei Jahren wächst Brasiliens Wirtschaft kaum noch. Die steigende Inflation hat die Wettbewerbsfähigkeit ruiniert, in der Leistungsbilanz klafft ein Defizit. Nun versucht die Regierung die Inflation mit Leitzinserhöhungen zu bekämpfen. Aber das ist nicht der Grund, weshalb sich im Juni spontan und überraschend Brasiliens Mittelschicht zu Massenprotesten auf den Straßen einfand. Die junge Elite wehrt sich gegen Korruption und Ineffizienz im Staatsapparat jenes Landes, das bis vor wenigen Jahren noch als Spitzenreiter unter den BRIC-Staaten galt.
Die Jugend stört, dass der Staat eine Dekade wirtschaftlicher Prosperität nicht genutzt hat – anders als etwa die USA im 19. Jahrhundert. Dort investierte man Einnahmen aus den Rohstoffsektoren in die Entwicklung von Dienstleistungsgewerbe und verarbeitender Industrie, sprich den Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur. In Brasilien hätte man die Chance dazu gehabt, als hohe Liquidität am Finanzmarkt und Chinas Rohstoffnachfrage ein Zeitfenster von zehn Jahren für Reformen öffneten. Jetzt, so scheint es, ist es dafür zu spät.
Die Vorarbeit für den Umbau der Volkswirtschaft hatten die Brasilianer in den Neunzigerjahren geleistet: Währungsreform, Schuldenerlass und Privatisierungen bildeten die Voraussetzungen für stabiles Wachstum in Brasilien. Die Regierung des Arbeiterführers Luis Inácio Lula da Silva, der das Land von 2003 bis 20011 regierte, schuf mit Sozialhilfe und Lohnerhöhungen einen stabilen Binnenmarkt, der Brasilien ab 2008 fast schadlos durch die ersten Jahre der Wirtschaftskrise brachte. Nachfolgerin Dilma Rousseff setzte ebenso auf staatliche Nachfrage – auch dann noch, als die Rohstoffpreise sanken. Spätestens da aber hätte die Regierung ernsthafte Reformen angehen müssen, um Brasiliens Wirtschaft und den verkrusteten Verwaltungsapparat effizienter zu machen.
Doch die linke Regierung in Brasília stellte bloß ein schwachbrüstiges Infrastrukturprogramm auf. In Sachen Infrastruktur, Bildung, Sicherheit und nach der Qualität des Gesundheitssystems sind die Brasilianer immer noch miserabel versorgt. Und das, obwohl die Steuern in Brasilien so hoch sind wie in manchen Industrieländern.
Es ist zu bezweifeln, dass die durch die Proteste geschwächte Rousseff-Regierung im beginnenden Wahlkampf eine wirtschaftspolitische Wende vollziehen wird – diese Hoffnungen kann Brasilien nur eine neue Regierung bieten. Ob die kommt, ist völlig offen. Trotzdem halten Investoren Brasilien als Markt und Standort die Treue. Vor allem in den Bereichen Konsumgüter und Dienstleistungen ist das Land mit seinen 195 Millionen Einwohnern nicht zu ignorieren, zumal die Brasilianer pro Kopf deutlich mehr verdienen als Chinesen oder Inder.