Weltwirtschaft Den Schwellenländern geht die Puste aus

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Brasilien: Reformen verschlafen

Die wichtigsten politischen Führer der lateinamerikanischen Geschichte
Simón Bolívar (1783-1830) Der große Freiheitsheld Südamerikas war auch das erklärte Vorbild des verstorbenen Hugo Chávez. Bolívar führte die südamerikanische Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren im nördlichen Südamerika. Sein Ziel eines einheitlichen Staates auf dem Gebiet der heutigen lateinamerikanischen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panamá, Ecuador, Peru und Bolivien scheiterte nach seinem Tod 1830. Nach ihm sind unzählige Städte und Dörfer in fast allen lateinamerikanischen Ländern benannt. Und mit „Bolivien“ sogar ein ganzes Land.  
Francisco Solano Lopez (1827-70) Lopez war der wohl größenwahnsinnigste Herrscher des 19. Jahrhunderts. Paraguay war unter der Herrschaft seines Vaters ein für südamerikanische Verhältnisse wohlgeordnetes, hochentwickeltes und wohlhabendes Land. Lopez Junior stieg das zu Kopf. Von seinem kaum eine Million Einwohner zählenden Land aus griff er 1864 gleichzeitig Argentinien, Uruguay und Brasilien an. Lopez Soldaten kämpften buchstäblich bis zum letzten Mann.  Er ließ sogar seine eigene Mutter auspeitschen, weil sie den Kampf beenden wollte. Nach fünf Jahren waren drei Viertel der Paraguayer tot – darunter Lopez. Trotzdem wird er bis heute von vielen als Nationalheld verehrt. Als vor zehn Jahren neue Geldscheine ausgegeben wurden, schmückte sein Konterfei eine davon.
Benito Juarez (1806-72) Mexikos größter Staatsmann des 19. Jahrhunderts war Abkömmling von Indianern. Er war von 1861 bis zu seinem Lebensende Präsident. Bis 1867 musste er sich in einem Bürgerkrieg gegen „Kaiser Maximilian“ durchsetzen, einen Habsburger, der von französischen Truppen unterstützt wurde, weil Juarez die Schulden gegenüber Frankreich nicht mehr zahlen wollte. Dieser Krieg, an dem auch zahlreiche Söldner aus den USA auf beiden Seiten teilnahmen, wurde in zahlreichen Western-Filmen verewigt, zum Beispiel in „Ein Fressen für die Geier“ mit Clint Eastwood.
Antonio Conseilhero (1830-97)Der “Ratgeber” zog als Wanderprediger durch Brasilien. Seine Anhänger verehrten ihn als Messias und gründeten in Canudos einen Gottesstaat, in dem die Zivilehe, die Steuergesetze, die Schulpflicht und die allgemeine Volkszählung als Teufelswerk galten. Erst im dritten Versuch konnte die brasilianische Armee die fanatischen Anhänger des Conseilhero niederwerfen, die bis zum letzten Mann kämpften. Die Leiche des Ratgebers wurde, wie damals üblich, öffentlich präsentiert. Auch die meisten Frauen und Kinder in Canudos wurden getötet. Der Bericht darüber von Euclides da Cunha gilt als erstes Werk der modern brasilianischen Literatur. Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schrieb über den Conseilhero seinen Roman „Der Krieg am Ende der Welt“.  
Emiliano Zapata (1879-1919) „Besser aufrecht sterben, als auf den Knien leben!“ war die Devise des großen mexikanischen Revolutionärs. Von 1909 an kämpfte er mit seiner aus Landarbeitern rekrutierten Rebellenarmee gegen das Regime des Diktators Porforio Diaz. Ein anderer Rebell – Venustiano Carranza – übernahm aber nach dem Sieg die Macht. Zapata starb in einem Hinterhalt. Seine Leiche wurde öffentlich präsentiert. Trotzdem entstand die Legende, dass Zapata in Wirklichkeit in den Bergen weiterlebte, um den Unterdrückten zu helfen. Sein Leben wurde mit Marlon Brando in der Hauptrolle verfilmt („Viva Zapata!“).
Rafael Leónidas Trujillo (1891-1961) Trujillo war ursprünglich ein Kleinkrimineller, machte dann aber eine steile Karriere in der Armee der Dominikanischen Republik. 1930 putschte er sich mit US-amerikanischer Hilfe an die Macht. Dreißig Jahrelang beherrschte er sein Land diktatorisch. Er gilt als Prototyp des ruchlosen Diktators. Berüchtigt war er dafür, dass er junge Mädchen entführen ließ und missbrauchte. Die Geschichte seiner Ermordung machte Mario Vargas Llosa zum Gegenstand seines Romans „Das Fest des Ziegenbocks“, der 2006 verfilmt wurde.
Juan Perón (1895-1974) Nach dem Populisten Perón benennt sich die herrschende politische Partei in Argentinien unter Cristina Kirchner. Perón war General, stellte sich gegen den vorherrschenden Einfluss englischer Unternehmen im damaligen Argentinien und sympathisierte mit Mussolini. 1946 kam er als Wahlsieger an die Macht. Noch populärer als er selbst war seine 1952 verstorbene Frau „Evita“, die sich als Wohltäterin der Armen profilierte und noch heute verehrt wird. Ein Musical, verfilmt mit Madonna in der Hauptrolle, machte sie endgültig unsterblich. Nach seinem Sturz 1955 ging Perón ins Exil, kam aber 1973 nochmals demokratisch an die Macht.

Reformen verschlafen. Seit drei Jahren wächst Brasiliens Wirtschaft kaum noch. Die steigende Inflation hat die Wettbewerbsfähigkeit ruiniert, in der Leistungsbilanz klafft ein Defizit. Nun versucht die Regierung die Inflation mit Leitzinserhöhungen zu bekämpfen. Aber das ist nicht der Grund, weshalb sich im Juni spontan und überraschend Brasiliens Mittelschicht zu Massenprotesten auf den Straßen einfand. Die junge Elite wehrt sich gegen Korruption und Ineffizienz im Staatsapparat jenes Landes, das bis vor wenigen Jahren noch als Spitzenreiter unter den BRIC-Staaten galt.

Die Jugend stört, dass der Staat eine Dekade wirtschaftlicher Prosperität nicht genutzt hat – anders als etwa die USA im 19. Jahrhundert. Dort investierte man Einnahmen aus den Rohstoffsektoren in die Entwicklung von Dienstleistungsgewerbe und verarbeitender Industrie, sprich den Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur. In Brasilien hätte man die Chance dazu gehabt, als hohe Liquidität am Finanzmarkt und Chinas Rohstoffnachfrage ein Zeitfenster von zehn Jahren für Reformen öffneten. Jetzt, so scheint es, ist es dafür zu spät.

Die Vorarbeit für den Umbau der Volkswirtschaft hatten die Brasilianer in den Neunzigerjahren geleistet: Währungsreform, Schuldenerlass und Privatisierungen bildeten die Voraussetzungen für stabiles Wachstum in Brasilien. Die Regierung des Arbeiterführers Luis Inácio Lula da Silva, der das Land von 2003 bis 20011 regierte, schuf mit Sozialhilfe und Lohnerhöhungen einen stabilen Binnenmarkt, der Brasilien ab 2008 fast schadlos durch die ersten Jahre der Wirtschaftskrise brachte. Nachfolgerin Dilma Rousseff setzte ebenso auf staatliche Nachfrage – auch dann noch, als die Rohstoffpreise sanken. Spätestens da aber hätte die Regierung ernsthafte Reformen angehen müssen, um Brasiliens Wirtschaft und den verkrusteten Verwaltungsapparat effizienter zu machen.

Doch die linke Regierung in Brasília stellte bloß ein schwachbrüstiges Infrastrukturprogramm auf. In Sachen Infrastruktur, Bildung, Sicherheit und nach der Qualität des Gesundheitssystems sind die Brasilianer immer noch miserabel versorgt. Und das, obwohl die Steuern in Brasilien so hoch sind wie in manchen Industrieländern.

Es ist zu bezweifeln, dass die durch die Proteste geschwächte Rousseff-Regierung im beginnenden Wahlkampf eine wirtschaftspolitische Wende vollziehen wird – diese Hoffnungen kann Brasilien nur eine neue Regierung bieten. Ob die kommt, ist völlig offen. Trotzdem halten Investoren Brasilien als Markt und Standort die Treue. Vor allem in den Bereichen Konsumgüter und Dienstleistungen ist das Land mit seinen 195 Millionen Einwohnern nicht zu ignorieren, zumal die Brasilianer pro Kopf deutlich mehr verdienen als Chinesen oder Inder.

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