WirtschaftsWoche: Sie leben seit 2009 in Taiwans Hauptstadt Taipeh. Wie bedrohlich empfinden die Menschen bei Ihnen die aktuelle Eskalation des Konfliktes mit der Volksrepublik China und die Militärmanöver rund um den Inselstaat?
Sascha Pallenberg: Mein Eindruck ist, dass die Bevölkerung das chinesische Säbelrasseln ziemlich ungerührt verfolgt. Die Situation ist ja nicht neu. Spannungen mit dem Nachbarland, der chinesische Anspruch, dass Taiwan Teil der Volksrepublik sei und bleibe, das ist hier der Normalfall. Insofern verfällt niemand in Panik, weil nun Militärmanöver laufen. Selbst wenn die so umfangreich sind wie nie zuvor. Zudem lösen die Chinesen mit all dem Drohen und Fordern etwas aus, das ihre eigentlichen Ziele konterkariert.
Nämlich?
Sie beschleunigen den Ablösungsprozess der taiwanischen Bevölkerung vom pan-chinesischen Gedanken. Als ich nach Taipeh kam, empfand sich noch rund ein Viertel der Menschen als Chinesen, die bloß in einem anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System leben. Heute liegt ihr Anteil bei einem niedrigen einstelligen Prozentsatz. Die Menschen hier sehen sich heute vor allem als Taiwaner, als Einwohner eines souveränen, demokratischen Staates. Die Idee, noch einmal Teil von China zu sein, ist für die Menschen heute nicht mehr vorstellbar.
Diese Souveränität gesteht der Großteil der Staaten weltweit Taiwan aber unter dem Druck Chinas bis heute nicht zu.
Richtig. Das ist ein wunder Punkt für viele Menschen. Es gibt eine globale ökonomische Wertschätzung für das Land als technologisches und innovatives Kraftzentrum der IT-Welt, als wichtigster Produzent und Lieferant von Hightech-Komponenten und Mikrochips. Aber die spiegelt sich nicht in der politischen Anerkennung des Landes wider. Das ist für viele hier sehr frustrierend. Nehmen wir nur das Beispiel, dass Taiwan, weil es nicht Teil der Weltgesundheitsorganisation WHO ist, keine Lieferungen von westlichen Covid-Impfstoffen bekommen hat. China wollte durchsetzen, dass in Taiwan nur chinesische Impfstoffe eingesetzt werden. Am Ende hat unter anderem der Präsident des Chipproduzenten TSMC selbst große Mengen von Impfstoffen importiert. Und es gab Spenden einzelner westlicher Nationen. Das haben die Menschen hier als Zeichen der Wertschätzung empfunden und mit großer Dankbarkeit zur Kenntnis genommen.
Genauso vermutlich wie jetzt den Besuch von Nancy Pelosi, der Präsidentin des US-Repräsentantenhauses?
Das war Balsam für die taiwanische Seele. Ähnlich wie der Besuch verschiedener EU-Delegationen im vergangenen Jahr und wie auch die klaren Worte der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zum Existenzrecht Taiwans. Dass die Grünen in ihrem Wahlprogramm ausdrücklich Taiwan erwähnt und den Status der Eigenständigkeit betont haben, das wurde hier gefeiert. Es hat dem ohnehin guten Ansehen Deutschlands in Taiwan noch Auftrieb gegeben.
Zur Person
Immer vehementer drängt China auf die Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik. Den jüngsten Besuch der Präsidentin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taipeh empfand die Volksrepublik daher als Affront. China antwortete mit den größten Militärmanövern rund um Taiwan und schoss mehrere Raketen über den Inselstaat hinweg. Wie es sich im Land lebt, das sich dauerhaft im politischen und militärischen Spannungszustand befindet, wie die Bevölkerung damit umgeht und warum die Taiwaner Deutschland lieben, erklärt Sascha Pallenberg. Der Digitalisierungsexperte und Techblogger lebt und arbeitet seit 2009 in Taipeh. Von 2017 bis Ende 2020 verantwortete er von dort aus die digitale Transformation des Daimler-Konzerns. Heute arbeitet er für das Berliner Nachhaltigkeits-Start-up Aware_The Platform.
Welche Rolle spielt Deutschland in Taiwan?
Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß, Verlässlichkeit, Ordnung und dergleichen haben in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Sie werden explizit als deutsch und vorbildlich angesehen. Wer von einem Auslandsstudium an einer deutschen Technischen Universität nach Taiwan zurückkehrt, genießt im Job hohes Ansehen. Wir haben hier deutsche Drogeriemärkte; deutsche Marken wie Zeiss, Rimowa, WMF, Bosch und viele andere sind sehr gefragt. Viele Menschen geben sich sogar zusätzliche, deutsche Vornamen. Eine Freundin von mir etwa nennt sich mit westlichem Namen Doris. Vorn im Sportteil der „Taipeh Times“ finden sich die Ergebnisse von Baseball aus den USA und aus der deutschen Bundesliga. Mir ist diese Verehrung manchmal schon fast unheimlich. So perfekt, wie uns Deutsche die Menschen hier einschätzen, sind wir ja gar nicht.
Worum geht es bei dem Streit um Taiwan?
Der kommunistische Machtanspruch geht auf die Gründungsgeschichte der Volksrepublik China zurück. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten zog die nationalchinesische Kuomintang-Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan, während Mao Tsetung 1949 in Peking die Volksrepublik ausrief. Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sieht eine „Vereinigung“ mit Taiwan als „historische Mission“.
Stand: September 2023
Die Insel zwischen Japan und den Philippinen hat große strategische Bedeutung. US-General Douglas MacArthur bezeichnete Taiwan einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA. Eine Eroberung durch China wäre ein wichtiger Baustein in dessen Großmacht-Ambitionen, weil es das Tor zum Pazifik öffnen würde.
China zwingt jedes Land, das diplomatische Beziehungen mit Peking haben will, keine offiziellen Kontakte mit Taiwan zu unterhalten. Es ist vom „Ein-China-Grundsatz“ die Rede. Danach ist Peking die einzige legitime Vertretung Chinas. Auf chinesischen Druck wurde Taiwan aus den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ausgeschlossen. Nur wenige kleinere Länder unterhalten noch diplomatische Beziehungen. Deutschland oder die USA betreiben nur eine inoffizielle Vertretung in Taipeh.
Die Taiwaner verstehen sich mehrheitlich längst als unabhängig und wollen zumindest den Status quo wahren. Auch wollen sie als Demokratie international anerkannt werden und sich keinem diktatorischen System wie in Festlandchina unterwerfen. Die frühere Kuomintang-Regierung hatte einst selber einen Vertretungsanspruch für ganz China, was sich bis heute im offiziellen Namen „Republik China“ widerspiegelt. Dieser Anspruch wurde 1994 aufgegeben. Damals wandelte sich Taiwan von einer Diktatur zu einer lebendigen Demokratie. Jede Veränderung des Status quo müsste aus Sicht der Regierung heute demokratisch von den 23 Millionen Taiwanern entschieden werden.
Experten gehen davon aus, dass ein Krieg um Taiwan massive und größere Auswirkungen hätte als der Angriff Russlands auf die Ukraine - auch auf Deutschland. Taiwan ist Nummer 22 der großen Volkswirtschaften, industriell weit entwickelt und stark mit der Weltwirtschaft verflochten. Ein Großteil der ohnehin knappen Halbleiter stammen von dortigen Unternehmen. Wegen der großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt wären deutsche Unternehmen massiv betroffen, wenn ähnlich wie gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen China verhängt werden sollten.
Stand: September 2023
Und umgekehrt, welche Relevanz hat Taiwan für Deutschland?
In der öffentlichen Wahrnehmung spielt Taiwan eine viel zu kleine Rolle. Nicht, dass die Deutschen Taiwan im gleichen Maße bewundern müssten. Aber in der Breite ist den Menschen überhaupt nicht klar, wie sehr gerade die deutsche Hightech-Wirtschaft von der Produktionsleistung und der Innovationskraft der taiwanischen Chip- und Technologiekonzerne abhängt.