30 bis 2030 | Gundbert Scherf: Der Brückenbauer
Gundbert Scherf
Foto: dpa Picture-AllianceWenn Traditionsverbände ein noch junges Start-up in einen ihrer Führungskreise berufen, übernimmt normalerweise einer der Gründer den ehrenvollen Posten. Doch als der Münchner KI-Anbieter Helsing diese Woche ins Verteidigungsforum des Bundesverbands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie aufrücken durfte, schickte der Neuling seinen Deutschlandchef Wolfgang Gammel – statt des Gründers und CEOs Gundbert Scherf.
Die öffentliche Zurückhaltung ist Teil von Scherfs Erfolgsrezept, mit dem er und seine Mitgründer Helsing gerade mal drei Jahre nach der Gründung bereits eine Investorenbewertung von angeblich fünf Milliarden Euro verschafft haben. Mögen andere Start-ups ihren Ruf und ihr Geschäft durch große öffentliche Auftritte, Technikpräsentationen und viel Medienpräsenz steigern, so agiert der 42-Jährige vor allem diskret hinter den Kulissen, in jenem Bereich, wo sich die Arbeit von Unternehmen, Sicherheitsbehörden und Investoren treffen. „Dort ist seine Heimat, da kennt er sich aus wie wenig andere“, kommentiert ein Rüstungsmanager.
Technologie, die einen Unterschied macht
Als Scherfs Stärke gilt es, sich gut in seine Gesprächspartner und ihre Interessen zu versetzen. „Er nimmt sich zurück, denkt schnell und liefert klare Formulierungen, auf die sich jeder einlassen kann“, sagt einer seiner Kontakte. „Ich finde Demokratien etwas sehr schützenswertes, dafür müssen sie sich in einer neuen Weltordnung auch wehrhaft zeigen“, beschreibt er seine Motivation. „Neue Technologien und eine neue Generation für diese Aufgabe zu motivieren, das ist den Einsatz wert.“
Auch wenn das manchen in der für harte Worte bekannten Branche etwas brav klingt: Mit seiner Fähigkeit, zu verbinden, könnte Scherf die Branche prägen. Denn könnte es wie wenige andere schaffen, eine Brücke zu bauen von der KI-Technik zu den klassischen Waffensystemen wie Panzern oder Schiffen und ihren Herstellern wie KNDS oder ThyssenKrupps Marine-Geschäft.
Das ist dringend nötig. Zwar zeigt der Ukrainekrieg jedem in der Branche, dass diese Art der Datenverarbeitung die Kriegsführung verändert und „diese Technologien einen großen Unterschied machen können, um unsere Streitkräfte optimal für die Zukunft auszurüsten“, sagt Tom Enders, einst Airbus-Chef und heute im Helsing-Verwaltungsrat. Doch wenn die traditionellen Marktführer wie Rheinmetall oder Airbus Milliarden in IT-Systeme stecken, was genau die Technik leisten soll und wie die Welt der Panzer und Kampfjets mit dem KI-Kosmos zusammenfindet, ist noch weitgehend offen.
Genau diese Lücke kann Scherf füllen. Denn er ist in beiden Welten zu Hause, kann sie trotzdem mit einer gewissen Distanz sehen. Er versteht zwar KI, ist aber kein IT-Nerd. Anders als seine Mitgründer Niklas Köhler und Thorsten Reil stand der promovierte Ökonom bis zum Start von Helsing im März 2021 eher am Rand der in die Medien gut vernetzten europäischen IT-Szene. „Das schärft den Blick“, meint ein Rüstungsmanager.
Mit seiner Mischung aus Nähe und Distanz blickt Scherf auch auf die wirtschaftliche Seite des KI-Geschäfts. Er arbeitete fast 20 Jahre in mehreren Ländern Europas und den USA an Eliteunis, mit den Führungsetagen von Konzernen, Investoren und Behörden. Insgesamt elf Jahre lang war er Partner für Luftfahrt und Rüstung bei der Unternehmensberatung McKinsey sowie gut zwei Jahre im deutschen Verteidigungsminister Sonderberater der Staatssekretärin Karin Suder, die zuvor ebenfalls bei McKinsey arbeitete. Dabei erlebte er viele Konzerne und ihre Arbeit hautnah.
Konkurrenz von allen Seiten
Ablenken könnten Scherf freilich die Herausforderungen in seinem eigenen Unternehmen. Auf den ersten Blick ist die Lage des Minikonzerns mit Außenstellen in Paris, London oder der Ukraine perfekt. Auch wenn Helsing bislang keine belastbaren Finanzzahlen veröffentlicht hat, gilt es bereits als europäischer Marktführer bei militärischer KI. Die Systeme sammeln angeblich Daten aus mehr und vor allem auch zivilen Quellen, interpretiert selbst vom Gegner manipulierte Informationen schnell und zuverlässig, bevor es den verantwortlichen Soldaten Handlungsmöglichkeiten vorschlägt, hören Branchenkenner wie Michael Santo, Chef der auf die Verteidigungsbranche spezialisierten Beratung H&Z von ihren Kunden.
Die Leistung der Programme brachte unter anderem Aufträge vom BWI abgekürzten IT-Dienstleister der Bundeswehr, den Streitkräften der Ukraine sowie als Partner des Anteilseigners Saab für die digitale Modernisierung des Eurofighters. „Wenn Helsing so weitermacht, wird es mittelfristig aus fast keinem deutschen oder europäischen wehrtechnischen Produkt herauszudenken sein“, sagt Santo.
Doch dafür muss gerade Scherf einige Herausforderungen lösen. So setzt Helsing auch auf bewaffnete Kamikaze-Drohnen, die im Notfall auch ohne Fernsteuerung selbständig selbst gepanzerte Ziele zerstören kann. Solche Geräte mieden westliche Anbieter bisher, weil jede Form auch nur teilweise autonomer Waffen Bürger und Soldaten in Angst und Schrecken versetzt. Helsing aber will von der Neuentwicklung bald 1000 Stück im Monat produzieren. Dafür muss Scherf vor allem in der Politik Überzeugungsarbeit leisten, meint ein führender Rüstungsmanager. „Selbst wenn er und sein Team das zu Recht als Schutz von Demokratien verkaufen, es testet auch eine moralische Grenze und dürfte die Branche verändern.“
Zudem ist es nicht ausgemacht, dass Helsing die technologische Führungsrolle im Bereich KI behält. Angreifer sind die wachsende Zahl von Wettbewerbern wie dem Vorreiter Palantir oder die auch im Drohnengeschäft aktive Firma Anduril aus den USA. Dazu gilt es die Vorstöße klassischer Rüstungsfirmen abzuwehren, die sich und ihre „teuer entwickelten Panzer und Kampfjets nicht zu bloßen Datenlieferanten degradieren lassen wollen“, wie ein Rüstungsmanager sagt.
Ungeduldige Investoren
Und zu guter Letzt muss das Unternehmen seinen ungeduldigen Investoren in absehbarer Zeit die vielen hundert Millionen Euro der vergangenen Finanzierungsrunden verdienen. Um auf Dauer zu wachsen und seine Systeme zu verbessern, braucht das Unternehmen Helsing erstmal noch mehr Geld seiner Investoren und endlich mehr bezahlte Aufträge der öffentlichen Hand. Dafür erwarte das Unternehmen, so Scherf, „Finanzierung und politische Aufmerksamkeit. Wir haben das für die Ukraine gut organisiert bekommen. Jetzt müssen wir es auch für unsere Streitkräfte tun, damit Europa hier nicht ins Hintertreffen gerät.”
Scherf selbst sieht sich und das Unternehmen für die Herausforderung gut aufgestellt. Der Helsing-Anspruch sei, so der Manager, mindestens zehnmal schneller zu sein als die Wettbewerber. „Wir wissen, dass wir alle einen klaren Mehrwert liefern müssen.“
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