30 bis 2030 | Heike Freund: Für immer unter Strom

Heike Freund
Heike Freund hat sich nicht weniger vorgenommen, als die Sonne auf die Erde zu holen. Bei dem Start-up Marvel Fusion führt sie das Tagesgeschäft – und ist damit dafür verantwortlich, dass der Traum von der Kernfusion endlich Wirklichkeit wird. Vor einem guten Jahr hat Marvel Fusion eine 150 Millionen Dollar schwere Kooperation mit der University of Colorado geschlossen – für eine eigene Laseranlage, die binnen der nächsten drei Jahre beweisen soll, dass die Technik des Start-ups tatsächlich funktioniert: Dass sich also der physikalische Prozess nachbilden lässt, der auch die Sonne antreibt. 2030 soll ein Pilotkraftwerk stehen.
Dass Heike Freund dies gelingt, ist keinesfalls sicher. Dass sie dafür zumindest ziemlich gute Voraussetzungen mitbringt, hingegen schon: Direkt nach dem Wirtschaftsingenieurstudium an der Universität Karlsruhe hat sie bei der Unternehmensberatung McKinsey begonnen. Und diese Zeit, so erzählt sie, habe sich angefühlt, als stecke sie in Schuhen, die eine Nummer zu groß sind. Und immer, wenn sie das Gefühl hatte, dass die Schuhe passten, wenn es also langsam bequem wurde, bekam sie die nächsten Schuhe, wieder ein Stückchen größer.
Zehn Jahre war Heike Freund bei McKinsey, beriet Autokonzerne und Maschinenbauer. Im Mai 2020 sitzt sie dann in einem Münchner Lokal und begegnet ihrer Zukunft. Sie hatte sich mit Freunden dort verabredet. Nach den lähmenden Monaten des Corona-Lockdowns war dieser Frühling ein ganz besonderer. Einer, in dem die Menschen nach Begegnungen lechzten, jede Gelegenheit für den spontanen Austausch mit anderen auskosteten. Auch Heike Freund, die an diesem Tag, in diesem Lokal, mit jemandem am Nachbartisch ins Gespräch kommt: Moritz von der Linden, Gründer und Chef von Marvel Fusion.
Heike Freund ist nicht nur eine Frau, die sich mit Leidenschaft auf die ganz großen Fragen stürzt. Eine, die von sich sagt, dass sie gern mit Leuten zusammenarbeitet, die klüger sind als sie. Als Kind hat sie mit ihrer Mutter einen Brief an die Deutsche Physikalische Gesellschaft geschrieben, um mehr über das Atomkraftwerk Philippsburg zu erfahren, in dessen Nähe sie aufgewachsen ist. Und als Unternehmensberaterin wusste sie, wie dringend Deutschland sichere und saubere Energie braucht. Vermutlich haben all diese Dinge ihren Anteil daran, dass aus dieser Zufallsbegegnung in der Mittagspause der wohl wichtigste Wendepunkt in der Karriere von Heike Freund wurde.
Moritz von der Linden warb um sie. Heike Freund war damals, mit Mitte 30, bereits Partnerin bei McKinsey – und ziemlich zufrieden mit ihrem Job, wie sie sagt. Die Entscheidung, ob sie zum Start-up Marvel Fusion wechseln soll, nimmt sie mit auf eine Rennradtour über die Alpen. Viele Berge, viel Zeit zum Nachdenken. Und schließlich sagt sie sich: „Wenn ich das nicht mache – was dann?“
Als sie bei Marvel Fusion eingestiegen ist, waren sie eine Hand voll Leute. Heute hat das Start-up 70 Mitarbeiter aus mehr als 20 Nationen. Dass sich die renommiertesten Forscher aus diesem Feld bewerben, empfindet Heike Freund als Privileg. Dass ihre Mission äußerst ambitioniert ist, daraus macht sie keinen Hehl. Wer sich mit ihr unterhält, der merkt schnell: Sie kann nicht nur ein so komplexes Thema wie die Kernfusion anschaulich erklären – sondern auch mit Begeisterung die wirtschaftliche Bedeutung skizzieren. Mehr als 100 Millionen Euro Wagniskapital hat sie so inzwischen bei Investoren eingesammelt.
Grob vereinfacht, ist Kernfusion das genaue Gegenteil von dem, was in einem Atomkraftwerk passiert: Die Atomkerne werden eben nicht gespalten, sondern verschmolzen. Es braucht dafür einen gigantischen Druck und unfassbar hohe Temperaturen. Erst dann rücken Atome so nahe zusammen, dass die Kerne verschmelzen – und dabei Energie freisetzen. Eine solche Energiequelle wäre nicht nur sauber, sondern auch unerschöpflich.
Nicht wenige Experten glauben, dass es noch 20 Jahre bräuchte, um Kernfusionsanlagen in großem Stil zu erschaffen. Und das sagen sie auch schon seit 50 Jahren. Heike Freund hingegen zeigt sich überzeugt, es in zehn Jahren zu schaffen. Und wer sie fragt, warum ihr gelingen sollte, was bislang niemandem gelang, dem entgegnet sie diesen Satz auf Englisch, der seit den 1960er-Jahren in der Szene herumgeistert: „Fusion will be ready when the world needs it.“
Und vermutlich brauchte Europa, brauchte Deutschland, nie dringender große Mengen sauberer Energie als heute – da wir uns vor den immer verheerenderen Auswirkungen des Klimawandels und dem Niedergang unserer Industrie sowie den daraus folgenden Wohlstandsverlusten gleichermaßen fürchten.
Die Schuhe, in denen Heike Freund derzeit steckt, sind jedenfalls ziemlich groß. Aber wer sie erlebt, hat nicht den Eindruck, dass ihr das Angst macht. Sondern eher: dass sie dies als Ansporn versteht.
Erstmals kürt die WirtschaftsWoche 30 Köpfe aus Deutschland, die unser Land bis Ende dieses Jahrzehnts prägen, verändern und nach vorn bringen werden. Denn es gibt viele Menschen und Projekte, die Mut machen. Eine Übersicht aller Preisträger finden Sie hier














