Forschungszentrum Cern Ein Teilchen-Beschleuniger als Vorbild für die Politik

Cern: Das Forschungszentrum als Vorbild für Europa Quelle: imago images

Das Forschungszentrum Cern soll als Modell dienen, wie Europa wieder Anschluss an die technologische Weltspitze findet. Aber kann das klappen? Einblicke in die Geheimnisse eines Wunderlabors.

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Die Trophäen der Vergangenheit haben Staub angesetzt. Mitten auf dem langen Regalsims steht eine Magnumflasche russischen Wodkas, drumherum Dutzende Champagnerpullen in drangvoller Enge. „Es wird Zeit, dass wir mal wieder eine Flasche spendiert bekommen“, sagt Mirko Pojer.

Er blickt über die Versammlung stumm blinkender Bildschirme, die der schlichten Industriehalle um ihn herum einen Hauch von Raumfahrtzentrum geben. Pojer leitet das Kontrollzentrum des Teilchenbeschleunigers LHC, er ist damit quasi verantwortlich für die Herzkammer der globalen Teilchenphysik. Das Gerät, das er da überwacht, ist ein 27 Kilometer langer, kreisrunder Tunnel unter dem Juragebirge, an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Der LHC ist der mit Abstand größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Und spätestens seit hier ein 2012 ein neues Teilchen, das Higgs-Boson, entdeckt wurde, hat der LHC damit auch das gesamte Forschungszentrum Cern weltberühmt gemacht.

Doch seit einiger Zeit läuft es nicht mehr. Der LHC liefert nicht, wie er soll. Für das laufende Jahr hatten die Physiker versprochen, die Leistung noch einmal deutlich zu steigern, doch der Beschleuniger erreicht seine Ziele nicht. Wenn die Maschine nicht liefert, dann gibt es keinen Champagner. Und wo er nicht fließt, da werden auch keine Teilchen entdeckt, ihre Eigenschaften bestimmt oder Theorien verworfen. So wollen es die profaneren Gesetze der Forschung.

Es ist genau dieser Alltag, für den sich derzeit die Welt auch jenseits der Wissenschaft am meisten interessiert. Wie funktioniert eigentlich dieses Cern? Wie schafft man es, ein internationales Forschungszentrum zu erschaffen, das dann nicht nur dekadente Kongresse organisiert, sondern tatsächlich in der Lage ist, weltbewegende Erkenntnisse zu liefern? Das Cern mag Schwächephasen haben, seiner Aura aber schadet das nicht. Hier wurden schließlich nicht nur Albert Einsteins Theorien praktisch bestätigt, sondern auch das Internet miterfunden. Da darf schon mal die Elektronik streiken.

Immer wieder muss das Cern als Vorbild herhalten, wenn sich Länder vornehmen, eine neue Forschungsorganisation mit globalem Führungsanspruch zu erschaffen. Jüngstes Beispiel: die künstliche Intelligenz (KI). Deutschland und Frankreich wollen sich hier zusammentun, um den Rückstand auf China und die USA wettzumachen. „Vielleicht brauchen wir für KI so etwas jetzt auch“, sagt sogar Oppositionspolitiker Christian Lindner (FDP) mit Blick auf das Cern, „eine europäische Initiative mit hohen Fördergeldern.“ Sogar einen Namen hätten einige europäische Forscher bereits: Ellis, Europäisches Labor für Lernende und Intelligente Systeme.

Cern Quelle: imago images

Aber ginge das überhaupt? Ließen sich die Organisationsprinzipien und der Erfolg des Cern einfach kopieren? Fakt ist: Bis heute ist es weltweit keiner Forschungseinrichtung gelungen, eine solche Dominanz in ihrem Feld zu entwickeln wie dem Cern in der Teilchenphysik. Außerdem gibt es das Cern immerhin schon seit 1954.

Es ist ausgerechnet der mehr als 60 Jahre alte Gründungsmythos des Cern, der es zum Ideal für abgehängte Europäer macht. Ist hier doch gelungen, was bei vielen digitalen Forschungsfeldern so unmöglich scheint: einen einmal erlittenen großen Rückstand wieder aufzuholen.

Die Entstehung ist direkt mit dem akademischen Brain Drain aus Europa während des Zweiten Weltkriegs verbunden. Alle bedeutenden jüdischen Wissenschaftler hatten den Kontinent damals gen Amerika verlassen, auch in Großbritannien und Frankreich hatten die verheerenden Lebensbedingungen viele Experten in die USA getrieben. Und während dort mithilfe ausgewanderter Exilanten kurz nach dem Kriegsende entscheidende Durchbrüche in der Atomphysik verzeichnet wurden, dämmerte der verbliebenen Forschergilde in Europa: Wenn wir uns nicht zusammentun, dann verlieren wir den Anschluss für immer.

Den Anstoß zur Gründung des Cern gab dann ausgerechnet ein amerikanischer Jude – der selbst erst als Kind mit seinen Eltern aus Galizien nach Amerika gekommen war. Der Nobelpreisträger Isidor Isaac Rabi regte bei der Unesco-Versammlung im Jahr 1950 die Gründung einer eigenen europäischen Organisation zur Atomphysikforschung an. Seine simple Erkenntnis: Konkurrenz belebt das Geschäft. Und genau in dieser inneren Struktur liegt bis heute eines der wesentlichen Erfolgsgeheimnisse des Cern.

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