Katastrophenfall-Analyse Das nächste Covid: Wie gut ist Deutschland für ein großes Erdbeben gerüstet?

Ein THW-Erkundungsteam macht sich im Einsatzfall ein erstes Bild von der Schadenslage. Quelle: THW

2012 hatten Forscher für die Bundesregierung die Folgen eines Virusausbruchs simuliert – und die Coronapandemie treffend vorhergesagt. Nun haben die Experten das nächste Szenario untersucht: ein großes Erdbeben nahe Köln. Und kommen erneut zu erschreckenden Erkenntnissen.

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Eine Reihe schwerer Erdstöße trifft die Großstadt Köln. Die Erschütterungen ähneln jenem katastrophalen Erdbeben, das 1976 die italienische Region Friaul verwüstete. Es gilt mit einer Stärke der sogenannten Magnitude 6,5 Mw als eines der schwersten und folgenreichsten in Europa in jüngerer Zeit. Dieses Mal aber bebt nicht die norditalienische Provinz, sondern die dicht bewohnte und erschlossene niederrheinische Bucht. 

Die ersten Beben dauern kaum mehr als ein, zwei Minuten, dann bricht in einer der wichtigsten Wirtschaftsregionen Westeuropas das Chaos aus. Und auf die ersten Stöße folgen weitere.

Was sich wie das neueste Drehbuch von Hollywood-Katastrophenfilmer Roland Emmerich liest, ist der Inhalt der Bundestagsdrucksache 19/23825, erstellt im Auftrag der Bundesregierung. Ihr Titel „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2019“. Das 125 Seiten dicke Dokument fürs Parlament liegt seit kurzem in einer Vorabfassung vor. Es soll aufzeigen, wie gut Politik, Verwaltung und Wirtschaft sowie Katastrophenschutz auf Schadenslagen bundesweiter Relevanz vorbereitet sind. Die finale Fassung folgt voraussichtlich Anfang 2021.

Schwerste Erdbeben in Deutschland? Das mag manchem reichlich unrealistisch erscheinen. Doch wie schon den früheren, seit knapp zehn Jahren veröffentlichten Risikoanalysen für Katastrophenfälle, liegen auch diesem Szenario keineswegs völlig realitätsferne Annahmen zugrunde. 2012 untersuchten Fachleute von Bund, Ländern und Forschungseinrichtungen das sogenannte „Modi-SARS“-Szenario. Darin analysierten sie Verlauf, Folgen und Bekämpfungsmöglichkeiten einer neuartigen, globalen Virus-Pandemie. Es war eine Prognose mit besorgniserregender Realitätsnähe, wie sich nun im Fall des aktuellen Coronavirus zeigt.

Und tatsächlich sind Erdbeben hierzulande zwar selten und meist weniger schwer als in tektonisch aktiveren Regionen wie Italien, Japan oder Kalifornien. Verglichen mit Naturgefahren wie Stürmen oder Überschwemmungen sind schwere Erdbeben in Deutschland kein häufig auftretendes Problem. Ausgeschlossen aber sind sie keineswegs, wie etwa gerade erst das Beben auf der Schwäbischen Alb oder das letzte größere im nordrhein-westfälischen Heinsberg in den Neunzigerjahren gezeigt haben. 

Geologische Bruchlinien mit erheblichem Bebenpotenzial verlaufen auch unter der Bundesrepublik. Eine davon, der sogenannte „Erftsprung“, liegt nur wenige Kilometer westlich von Köln. Genau dort nimmt das nun untersuchte Szenario seinen Anfang.

Chemieanlagen explodieren, Kirchenschiffe kollabieren

Wie gut also ist Deutschland für eine Großschadenslage gerüstet, wie sie dieses Mal Fachleute von rund 30 Behörden, Unternehmen und Forschungseinrichtungen unter Federführung der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe untersucht haben? Stehen die Chancen besser für eine angemessene, wirksame und schnelle Reaktion auf den Erdbebenfall als bei der Coronapandemie?

Soviel vorweg: Für eine Katastrophe des angenommenen Ausmaßes reichten weder die lokalen noch die regionalen Notfallstrukturen aus. Nicht nur, aber auch, weil die Helfer vor Ort selbst mit massiven Hindernissen konfrontiert und von hohen Opferzahlen betroffen wären. 

von Benedikt Becker, Nele Husmann, Thomas Kuhn, Thomas Stölzel

Denn die Stöße der angenommenen Stärke lassen nicht bloß die Millionenstadt Köln und ihr Umland erbeben. Sie hinterlassen auch in 100 Kilometern Distanz noch teils erhebliche Schäden: Chemieanlagen explodieren, Kirchenschiffe kollabieren, Rheinbrücken stürzen ein. Aus gerissenen Versorgungsleitungen strömt Gas, das sich entzündet. Zugleich versagen die Trink- und Löschwasserversorgung als Folge von Stromausfällen und geborstenen Wasserleitungen. Angesichts der apokalyptischen Szenen, sind in der Stadt und in vielen umliegenden Gemeinden binnen Minuten Hunderttausende Menschen traumatisiert.

Es dauert Tage, bis Retter, die aus dem ganzen Bundesgebiet und aus Nachbarländern in die Katastrophenregion gerufen werden, die letzten Überlebenden aus den Trümmern befreien können. Die Zahl der Toten hingegen erreicht schon nach kurzer Zeit mehrere Tausend. Hunderte Opfer bleiben erst einmal vermisst. Die Verletztenzahlen summieren sich in den ersten Tagen auf zehntausende Menschen. 

Wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe

Das Heer der Hilfebedürftigen wächst schlagartig auf weit über hunderttausend Personen. Sie müssen für mehr als einen Monat in Notunterkünften leben oder andere Hilfen ein Anspruch nehmen. Wasser- und Stromversorgung sind erst nach Tagen zumindest provisorisch wiederhergestellt. Die bei Erdstößen dieser Stärke üblichen Nachbeben lassen die Versorgungsnetze anschließend immer wieder zusammenbrechen.

Auch die prognostizierten wirtschaftlichen Folgen sind immens und gehen weit in die Milliarden: Zwar verzichten die Autoren der Analyse darauf, eine konkrete Schadenssumme zu berechnen. Doch alleine der Finanzbedarf des Bundes für kurz und langfristige Hilfen sei so groß, schreiben sie, dass selbst „Umschichtungen im Haushalt den Mittelbedarf nicht abdecken können“. Für die Finanzierung der Ausgaben seien ein Nachtragshaushalt auf Bundesebene sowie der Zugriff auf Hilfsprogramme der Europäischen Union erforderlich.

Doch die Experten belassen es nicht bloß dabei, mögliche Schäden zu beschreiben. Sie analysieren auch die Reaktionsfähigkeit des Staates und dessen Vorbereitungen auf ein derartiges Szenario. Und kommen dabei zu einem ähnlich vernichtenden Urteil wie 2012, als sie die Vorbereitung auf eine globale Viruspandemie einschätzen sollten.

Es fehlt an Konzepten, Personal und Material

Für einen Schadensfall diesen Ausmaßes, stellen die Experten fest, seien Staat und Strukturen in keiner Weise gerüstet. So komme es bereits kurzfristig „zur Überlastung der medizinischen Versorgung“. Wegen der Vielzahl der Verletzten müssten Ärztinnen und Ärzte die Behandlung der Patienten nach Erfolgsaussichten priorisieren und eine sogenannte „Triage“ vornehmen. Das bedeutet, Erdbebenopfer mit geringeren Überlebenschancen blieben im schlimmsten Fall unversorgt. Insgesamt müssten Intensivpatienten im gesamten Bundesgebiet, möglicherweise auch in benachbarte EU-Länder verteilt werden. So wie deutsche Kliniken in der gegenwärtigen Coronakrise Intensivpatienten aus Nachbarstaaten versorgen.

Auch Helfer und Gerät für die technische Rettung – von kommunalen Feuerwehren bis zu den regionalen Kräften des technischen Hilfswerks – reichen laut der Analyse vorne und hinten nicht aus. Die „Gefahrenabwehr des Katastrophenschutzes [stößt] an ihre Grenzen“. Verschärft werde die Situation dadurch, dass Einsatzkräfte wegen des Ausfalls der Alarmsysteme weder aktiviert noch über Funk erreicht werden könnten. Auch die Zahl der für die Notstromversorgung benötigten Aggregate sei nicht bloß insgesamt zu gering. Die vorhandenen Geräte seien zudem teils mehrfach verplant und damit „im Krisenfall nicht frei verfügbar“. 

Wohin man im Bericht blättert: Knappheit und Mangel allerorten! Es fehle an Konzepten, Personal und Material, um die große Zahl von Opfern und Betroffenen erfassen zu können. 



Nicht einmal die Behörden selbst seien ausreichend vorbereitet, die eigene Funktionsfähigkeit in der Katastrophe sicherstellen zu können, monieren die Katastrophenplaner. Und was die Bewertung der Schäden angehe, so fehle es nicht bloß an Bauexperten und Statikern, um der Masse der Einsatzorte Herr zu werden. Auch für den Einsatz der Baufachberater selbst gebe es bisher keinerlei Planungen.

All das, so mahnen die Autoren des Berichtes, sei keineswegs eine vollständige Liste der erwartbaren Schwierigkeiten. Die Übersicht erhebe „keinen Anspruch auf Vollständigkeit“. Die Analyse diene in erster Linie dazu, die Vielzahl bisher ungelöster Probleme zu umreißen, mit denen die Bundesrepublik bei Schadensfällen vergleichbaren Typs und Ausmaßes konfrontiert sein könne. 

Was also tun? Unter anderem fordern die Experten, die Strukturen fürs Krisenmanagement auf allen Verwaltungsebenen massiv zu verbessern. 

Vorbild Japan: Selbstschutzkurse in der Schule

Es brauche dringend Planungen, wie die Behörden selbst in der Katastrophe arbeitsfähig bleiben können. Evakuierungs-, Betreuungs- und Erfassungskonzepte müssten über Städte-, Kommunal- und Kreisgrenzen hinweg abgestimmt, Versorgungs-„Leuchttürme“ vorgeplant und eingerichtet werden. Daneben müsse auch die Bevölkerung in den erdbebengefährdeten Regionen besser als bisher für Erdbebengefahren sensibilisiert werden. Möglichkeiten für den Selbstschutz sollten bereits im Schulunterricht vermittelt werden; so wie das etwa in Japan längst üblich ist. 


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Gerade bei der Selbsthilfe sind die Lücken besonders groß, seit die Politik den Zivilschutz vor rund 30 Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges weitestgehend abgebaut hatte. Aufgrund der Annahme, künftig nur noch „von Freunden umzingelt“ zu sein, hatten Bund und Länder nicht nur Notfallkrankenhäuser, Medikamentenlager sowie zusätzliche ehrenamtliche Hilfskräfte abgeschafft beziehungsweise entlassen. Auch die für Schulungen der Bevölkerung zuständige Bundesanstalt für Zivilschutz wurde in den Jahren nach der deutschen Einheit abgeschafft. Die zuvor für die Katastrophenabwehr verplanten Mittel wurden als sogenannte „Friedensdividende“ für andere Vorhaben verplant.

Dass das ein Fehler gewesen sein könnte, darauf hatten die Autoren der Risikoanalyse Bevölkerungsschutz schon 2012 hingewiesen, als sie ihr Modi-SARS-Szenario entwickelten. Ohne damit allerdings bei Bund oder Ländern auf größere Resonanz zu stoßen. Das hat nicht zuletzt der massive Mangel an Schutzkleidung und potenziellen medizinischen Hilfskräften in der gegenwärtigen Coronapandemie offenbart. 

Es bleibt zu befürchten, dass das kaum anders ist, sollte das skizzierte große Beben tatsächlich den Niederrhein treffen – oder irgendeine andere erdbebengefährdete Region der Republik. Immerhin, wenigstens das Katastrophenszenario gibt es dann ja schon: In der Bundestagsdrucksache 19/23825.

Mehr zum Thema: Waldbrände, vermintes Gelände, Chemieunfälle – künftig sollen Rettungsroboter Feuerwehrleute bei besonders brisanten Aufgaben unterstützen.

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