Ob Lipobay, Vioxx oder Bextra – etliche einst hochgejubelte Präparate mussten wenige Jahre nach ihrer Einführung vom Markt genommen werden, weil sich zeigte, dass sie erheblich schwerwiegendere Nebenwirkungen verursachten, als man zunächst eingeräumt hatte.
Und die nächsten Absturzkandidaten sind schon in Sicht: die beiden jüngsten Marktschlager Pradaxa und Xarelto. Beide Präparate sind Blutgerinnungs-Hemmer und haben den entscheidenden Vorteil, dass sie als Pille verfügbar sind. Alle bislang verfügbaren Produkte müssen gespritzt werden.
Aber seit einiger Zeit mehren sich die Hinweise, dass die Mittel schwere Blutungen verursachen können – und die Hersteller Boehringer und Bayer nicht ausreichend darüber informiert haben. Anfang 2014 wurde Boehringer in den USA von mehreren Tausend Betroffenen verklagt. Im Mai 2014 legte der Konzern den Streit mit einem Vergleich bei – und zahlte den rund 4000 Geschädigten insgesamt 470 Millionen Euro.
Probleme bereitet zudem der immer bunter werdende Cocktail von Medikamenten, den ein wachsender Teil der Bevölkerung heute schluckt. Bislang ist kaum untersucht, was die Kombination von oftmals hochpotenten Stoffen im Körper bewirkt und ab wann sie für den Konsumenten tödlich wird.
Fest steht nur: Je älter der Patient, desto höher ist das Risiko, dass er zum Opfer von Nebenwirkungen und Fehldiagnosen wird. Denn das Alter bringt häufig unterschiedlichste gesundheitliche Probleme mit sich, wie Schmerzen, Arteriosklerose oder Diabetes, weshalb viele Senioren fünf und mehr Medikamente gleichzeitig einnehmen. Im Extremfall ist es sogar mehr als ein Dutzend Präparate pro Patient.
"Dieser Mix ist für die Patienten mitunter extrem schädlich", so Hendrik von den Bussche, Professor für Allgemeinmedizin am Universitäts-Klinikum Hamburg-Eppendorf. Denn je mehr Substanzen ein Patient einnimmt, desto höher ist das Risiko von Neben- und Wechselwirkungen.
Zumal bei einem älteren Menschen. Im Alter reagiert der Organismus auf viele Medikamente nämlich anders als in jungen Jahren. Der Körper baut Arzneimittel meist langsamer ab, und sie bleiben unter Umständen doppelt so lange im Organismus. Sie wirken damit oft stärker – wodurch das Risiko für Nebenwirkungen weiter steigt.
Paradoxerweise rufen viele Medikamente bei älteren Menschen zudem häufig Nebenwirkungen hervor, die als charakteristische Merkmale einer Demenz gelten, darunter Unruhe, Wahnvorstellungen, Angst, Apathie, Reizbarkeit, Übererregung und Schlafrhythmusstörungen.
Kollektives Schweigegelübde
Hinzu kommt ein Phänomen, das hierzulande eine Art kollektives Schweigegelübde umgibt: ältere Menschen, die über Jahre oder gar Jahrzehnte tablettenabhängig sind. Meist handelt es sich dabei um Schlaf- und Beruhigungsmittel wie Librium, Valium, Sonata, Zolpidem oder Tavor.
In Deutschland gebe es "wahrscheinlich mehr Tablettenabhängige als Demente", schätzt Siegfried Weyerer, der an der Universität Mannheim über die Häufigkeit psychischer Krankheiten forscht. Auch wenn es schwierig einzuschätzen sei, wo diese Suchtform beginne, seien wohl mindestens eine Million Deutsche im Rentenalter tablettenabhängig, so der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen, der sich seit Jahren mit dem Thema "Sucht im Alter" befasst.
Zusammen mit den gar nicht so wenigen alkoholabhängigen Senioren habe die Altersklasse über 65 Jahre damit wohl die höchste Suchtquote. Anders ausgedrückt : In keiner Altersgruppe gibt es so viele "Drogenabhängige" wie bei den Ruheständlern. Und bald werden es noch mehr sein.