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WiWo History EssayWarum sich Innovationen nicht einsperren lassen

Wer seinen technologischen Fortschritt vor anderen bewahren wollte, hatte damit selten Erfolg. So könnte sich schon bald mit China wiederholen, was einst Großbritannien durch die deutsche Industrie drohte.Werner Plumpe 27.10.2023 - 19:04 Uhr

Kann man die Verbreitung technologischen Wissens dauerhaft verhindern? Historische Belege für eine positive Antwort auf diese Frage finden sich nicht, da die wirtschaftliche Nutzung technischer Neuerungen in gewisser Hinsicht ja deren Aufdeckung bedingt und zumindest Nachahmung ermöglicht. Aber: Kann man die Verbreitung technischen Wissens schon nicht verhindern, so kann man sie trotzdem verzögern und den Versuch unternehmen, zumindest die Pioniergewinne einer technischen Neuerung zu behalten und zugleich den eigenen technologischen Vorsprung zu festigen.

Aus diesem Grund gibt es zahlreiche historische Beispiele für das Zurückhalten technologischen Wissens, doch hat sich auch auf diese im Einzelnen von Zeit zu Zeit durchaus effektive Art, andere vom neuesten Stand der Technologie auszuschließen, ein Vorsprung dauerhaft nicht behaupten lassen. Im Gegenteil, die Wirkungen solcher Ausschlussmaßnahmen waren überaus ambivalent; häufig fielen sie sogar auf ihre Urheber zurück, denn sie zwangen die Konkurrenz zu vermehrten Anstrengungen, die nicht selten erfolgreich waren. Überdies unterdrückt oder mindert zumindest die Nichtweiterverbreitung von Wissen den Wettbewerb, ja kann zu einer trügerischen Sicherheit führen, in einer unangefochtenen Position zu sein. Das Gegenteil scheint historisch aber eher der Fall: So lange sich eine Volkswirtschaft im technologischen Wettbewerb behaupten muss und dies auch kann, benötigt sie im Grunde gar keinen Schutz. Wenn sie ihn braucht, ist es unter Umständen bereits zu spät.

Die moderne Wirtschaftsgeschichte kennt zahlreiche Fälle des Versuches, ökonomisch wertvolles technisches Wissen zumindest zeitweise zu monopolisieren und auf diese Weise eine Art Monopolrente zu ermöglichen. In der älteren Welt handelte es sich dabei vor allem um „Geheimnisse“ in Produktionsverfahren, die von einzelnen Gewerbetreibenden oder ihren Verbänden sorgsam gehütet wurden. Das gibt es bis heute, wenn auch nur wenige Geheimnisse so effektiv verteidigt werden konnten, wie das legendäre Rezept von Coca-Cola. Bemerkenswert ist die Geschichte des Murano-Glases:

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Den dortigen Glasmachern war nicht nur die Weitergabe ihres Wissens, sondern auch die Emigration, also das Eintreten in fremde Dienste, bei Todesstrafe verboten, doch hielten diese Regeln nicht dauerhaft, da das Verbreitungsverbot zugleich den Anreiz, es zu umgehen, deutlich erhöhte. Die Venetianer behinderten zwar die Weitergabe technischen Wissens, an dem Verkauf des Glases verdienten sie aber gern gutes Geld. Folgerichtig strebten viele europäische Obrigkeiten, die dafür teuer zahlen mussten, selbst nach dieser Technologie, um das venetianische Monopol loszuwerden; andererseits war es u.U. für einzelne Glasmacher selbst sehr lukrativ, die Inseln heimlich zu verlassen und in fremden Diensten eine entsprechende Glasproduktion aufzubauen. Spätestens im 17. Jahrhundert war es so weit, als unter Ludwig XIV. in Frankreich eine Glas- und Spiegelproduktion nach venetianischer Art, getragen zunächst von dort abgeworbenen Meistern, aufgebaut wurde. Venedig verlor in der folgenden Zeit sein Monopol, konnte die Bedeutung der eigenen Glasherstellung aufgrund dessen hoher Qualität allerdings behaupten.

Das Glas ist nur ein Beispiel; ähnliche Fälle finden sich schnell in anderen Bereichen, etwa beim Porzellan, bei der Pulverherstellung oder später bei bestimmten Stahlsorten, schließlich optischen Instrumenten und bei den ersten Werkzeugmaschinen, die den Weg ins Fabrikzeitalter öffneten. Dabei waren die Weitergabeverbote nicht allein auf technische Artefakte und Produktionsverfahren beschränkt. Auch die ersten Seekarten, die ein sicheres Navigieren in noch wenig bekannten Gewässern ermöglichten, waren Staatsgeheimnisse und wurden eifersüchtig vor fremder Einsicht geschützt. Waren es zu Anfang allerdings insgesamt weniger staatliche Interessen, die die Verbreitung bestimmter Technologien hinderten, sondern lokale Gewerbevorschriften und-verbote, so nahm mit der zunehmenden Bedeutung ökonomisch relevanter Technologien das öffentliche Interesse hieran deutlich zu, zumal es in der Regel von militärischer Brisanz war oder sein konnte.

Der sich seit dem 17. Jahrhundert vor allem in Westeuropa stark ausbreitende Merkantilismus setzte daher auch gezielt auf derartige Verbreitungsverbote, die zumeist neben den Weitergabeverboten mit Mobilitätsbeschränkungen für entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte durchgesetzt werden sollten. Das gelang nur sehr begrenzt, zumal die Religionskriege zu Massenauswanderungen gerade von hochqualifizierten Arbeitskräften führten.

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Vor allem aber förderten Ge- und Verbote Schmuggel, Industriespionage und Abwerbungsversuche bestimmter Qualifikationsgruppen.

Großbritannien, das im 18. Jahrhundert in Europa die Technologieführerschaft übernahm und diese bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts einigermaßen behaupten konnte, war folgerichtig das Hauptreiseziel deutscher Fabrikanten, u.a. von Alfred Krupp, die nicht nur geheim gehaltene Produktionsverfahren ausspionierten, sondern auch bestimmte Arbeitergruppen abwarben, um mit ihnen britische Herstellungsverfahren auf dem Kontinent zu etablieren. Das Puddle-Verfahren zur Herstellung von Stahl aus Roheisen ist das bekannteste Beispiel; aber es finden sich viele andere. Aus britischer Sicht mochte das ärgerlich sein, doch so lange das Land über die überlegene Fähigkeit und die größeren Kapazitäten verfügte, war das nicht so tragisch.

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Die Vorstellung freilich, man hätte das Monopol auf die Lokomotivenfertigung behaupten können, wenn das Wissen um deren Funktionsweise auf England beschränkt geblieben wäre, ist geradezu absurd, denn das hätte de facto verlangt, keine Lokomotiven zu exportieren. Die technologische Basis der englischen Industrialisierung war zumeist noch ein kleinteiliger, handwerklich geprägter Verbesserungsprozess, der leicht nachzuahmen war, sollte die notwendige Qualifikation der Arbeitskräfte gegeben sein. Und genau das war beim Lokomotivenbau der Fall, den seit den 1850er Jahren im deutschen Fall inländische Firmen, namentlich die Berliner Maschinenfabrik August Borsig, auf der Basis englischer Vorbilder übernahmen und die englische Konkurrenz bald völlig verdrängten.

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Dass Großbritannien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive die industrielle Technologieführerschaft verlor, hatte indes wenig damit zu tun, dass es sein technisches Wissen nicht geheim halten konnte. Im Gegensatz zum aufstrebenden Kontinent fiel Großbritannien sukzessive zurück, weil es, auch bedingt durch die großen Erfolge in der ersten Phase der Industrialisierung, den Einstieg in die neuen, wissenschaftlich begründeten Industriezweige etwa der Chemie oder der Elektrotechnik verschlief, jedenfalls angesichts der eigenen Tradition sehr viel länger benötigte, ganz neue Strukturen einzuführen, was in Deutschland, das insofern ganz von vorne anfangen konnte, leichter gelang.

Hinzu kam, dass Großbritannien lange den Einstieg in die moderne Forschungsuniversität verzögerte, der sich in Deutschland ausgehend von Liebigs Innovation des kontrollierten Experiments sehr viel rascher vollzog und dem Land einen Vorteil bei der Versorgung mit Forschungsergebnissen einerseits, hochqualifizierten Arbeitskräften andererseits verschaffte. Die These ist nicht von der Hand zu weisen, dass es gerade der große Erfolg in der Frühzeit der Industrialisierung war, der sich hier nachteilig auswirkte, zumindest dann, wenn diese Erfolge eine trügerische Sicherheit geben.

Ein weiterer, hier überaus einschlägiger Befund stützt diese Überlegungen: Sowohl in Großbritannien wie in Frankreich gab es seit längerem, in Großbritannien schon seit dem 18. Jahrhundert, Patentgesetze, die die wirtschaftliche Nutzung von technischen Neuerungen zumindest zeitweilig den Inhabern der Patente ausschließlich zusprachen, sodass gerade bei bestimmten Innovationen, etwa Teerfarbstoffen, die seit den 1850er Jahren ihren Erfolgsweg begannen, faktisch keine Konkurrenz möglich war und entsprechend wenig Unternehmen den Weg in die neue Technik suchten.

In Preußen war die staatliche Bürokratie aus liberaler Überzeugung gegen eine entsprechende Gesetzgebung, da durch derartige Vorschriften nur die ja nützliche Verbreitung technischen Wissens zugunsten einzelner Monopolisten behindert werde. Das Patentgesetz von 1877 sah dann auch keineswegs ein einfaches Anmeldeverfahren wie in Großbritannien vor, sondern zwang die Unternehmen, ihre Neuerungen ausführlich darzulegen und einer Prüfung durch die staatlichen Behörden sowie die Konkurrenz auszusetzen, ob es sich auch wirklich um Neuerungen handelte.

Gab es in den 1860er und 1870er Jahren eine Vielzahl von Unternehmen in der jungen Chemie, die sich eine geradezu mörderische Konkurrenz lieferten, so waren nach dem Gesetz die Unternehmen zum Aufbau eigener Forschungsabteilungen gezwungen, um die eigenen Patentanträge wasserfest formulieren und die Anträge der Konkurrenz entsprechend prüfen zu können. Es war die Offenheit unter Konkurrenzbedingungen, die sich im deutschen Fall als technologische Peitsche auswirkte und den Entwicklungsvorsprung der deutschen Chemie vor ihrer ausländischen Konkurrenz begründete, nicht der staatlich sanktionierte Schutz bestehender Verfahren. Zweifellos versuchten auch die deutschen Unternehmen ihre Positionen zu behaupten, doch war das letztlich nur durch Steigerung der Leistungsfähigkeit möglich, so sehr man auch in vielen Fällen Geheimniskrämerei betrieb. Sie allein hätte keineswegs gereicht, die eigene Position zu behaupten und die Konkurrenz zu schwächen.

Das 20. Jahrhundert kennt ähnlich wie das 19. Jahrhundert zahlreiche, nicht selten militärisch begründete Versuche, die Verbreitung relevanten technologischen Wissens zu behindern oder gar zu verhindern. Auch wenn die Zeitverzögerungen, die das mit sich brachte, nicht unterschätzt werden sollten, hat das aufs Große und Ganze kaum genutzt. Nicht nur gab es immer wieder illegale Verbreitungswege, nicht nur spielten Kopie, Nachahmung und regelrechte Produktpiraterie eine große Rolle. Aber die Überheblichkeit, mit der in den 1950er Jahren etwa die japanische Industrie betrachtet wurde, die eifrig vom Westen „lernte“, war nicht nur falsch, sie war irreführend. Denn Japan kopierte nicht „den“ erfolgreichen Westen, sondern entfaltete seine eigenen Produktivitätspotentiale im Wissen um die westliche Ökonomie, doch unter Ausnutzung der nationalen Ressourcen insbesondere beim Humankapital.

Und ganz ähnlich geht es heute in der Volksrepublik China zu. Sicher ist China in manchen Gebieten zurück und profitiert von der Nutzung westlicher Technologien. Sicher kann man versuchen, die dortige Entwicklung zu verzögern, aber ein Blick in die chinesischen Bildungsstatistiken und insbesondere ein Vergleich der dortigen mit den hiesigen Daten, zeigt, dass man die chinesischen Möglichkeiten nicht unterschätzen sollte, die ja nicht allein darin bestehen, dass China alles nur nachvollzieht, was der Westen längst hat.

Das britische und das deutsche Beispiel aus dem 19. Jahrhundert enthalten ja eine andere Botschaft; auch wenn die deutsche Industrie zunächst nachahmte, schlug sie doch sehr schnell eigene Wege und war damit erfolgreich. Nicht der technische Pionier behauptet seine Spitzenposition, sondern der entfaltet sich schneller, der seine Potentiale besser nutzt, wobei das Nachzüglerdasein durchaus seine Vorteile hat, denn es gibt weniger sunk costs als beim Pionier und geringere Pfadabhängigkeiten, die für Neues überwunden werden müssen. Auch der reale Sozialismus ist nicht deshalb gescheitert, weil ihn der Westen effektiv von technischen Neuerungen ausgeschlossen hätte; das war dort, wo es darauf ankam, also bei der Militärtechnologie, gerade nicht der Fall.

Der reale Sozialismus ist daran gescheitert, dass das politische System der Wirtschaftsverwaltung und Wirtschaftslenkung die Länder daran hinderte, ihr Potential zu entfalten und effektiv zu nutzen. Es war Selbstblockade, nicht Fremdeinwirkung, die schließlich zum Zusammenbruch des Sowjetblocks führte. Von einer solchen Selbstblockade ist in China derzeit wenig zu sehen, auch wenn der politische Anspruch der kommunistischen Partei gelegentlich einen derartigen Eindruck erwecken mag. Nein, die USA werden ihren Vorsprung nur behaupten, wenn sie ihre eigene Leistungsfähigkeit halten, ja verbessern und immer damit rechnen, dass auch in China genau hierauf gezielt wird.

Will man hingegen eigene Leistungsschwäche durch Schwächung des vermeintlichen Gegners kaschieren, wird es brisant. Die Spannungen nehmen zu, ohne dass daraus ein wirtschaftlicher Nutzen entstünde. Keine schönen Aussichten, zumal es ja ganz dumm wäre, von einer dauerhaften Überlegenheit der westlichen Volkswirtschaften auszugehen. Vielmehr ist eine Situation gut vorstellbar, ja teilweise schon erreicht, in der auch sie von offener Kooperation nur profitieren kann. Die liberale Überzeugung der preußischen Bürokratie, den freien Strom des Wissens für einen Vorteil zu halten, der nur mit Schaden behindert werden kann, sollte man nicht so einfach beiseiteschieben.

Lesen Sie auch: Wirtschaftshistorische Niedergangs-Szenarien – was aus ihnen wurde und welche Rolle sie heute noch spielen

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