
Zwei Jahrhunderte nach der historischen Erstfahrt des badischen Tüftlers Karl Drais scheint das Fahrrad seinen Platz im deutschen Verkehr endgültig zu finden. Die Politik hat das Potenzial für ruhigere, sauberere Städte und den Klimaschutz erkannt. Immer mehr Menschen nutzen das Fahrrad in der Freizeit oder als Alternative zum Auto auf kürzeren Strecken. „Im internationalen Vergleich ist Deutschland sicher ein Fahrradland“, sagt etwa Frederic Rudolph vom Wuppertal-Institut. „Wir haben aber noch viel Luft nach oben.“
Nach einer Prognose im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums könnte sich der Anteil des Fahrrads an der Verkehrsleistung (Personenkilometer) von heute fünf Prozent bis 2030 auf neun Prozent fast verdoppeln. Voraussetzung ist, dass wir ebenso oft auf den Sattel steigen wie die Vorreiter Niederlande oder Schweiz.
Und doch ist die Unzufriedenheit etwa beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) über löchrige Radwege und gefährliche Verkehrsführungen noch groß. „Sobald Städte es schaffen, Radfahrenden ihren eigenen sicheren Raum zu geben, ist der Radverkehr kaum noch zu stoppen“, ist ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork sicher.
Kurioses und Wissenswertes rund ums Fahrrad
Der Verschleiß bei dem wohl wichtigsten Radrennen der Welt, der Tour de France, ist enorm. So hält eine Fahrradkette, die ungefähr 250 Gramm wiegt, bei den Profis etwa eine Woche - dann wird sie ausgetauscht. In diesem Jahr startet die Rundfahrt am 1. Juli in Düsseldorf, nach etwa 3500 Kilometern kommt die Tour am 23. Juli in Paris an. Besonders wichtig für die Fahrer: Den stark beanspruchten Hintern zu schonen, dafür ist ein guter Sattel unverzichtbar. Ihren Favoriten nehmen die Rennfahrer von Rad zu Rad mit. Die Profis passen zudem besonders auf ihre eingefahrenen Schuhe auf, bei den Torturen wollen sie sich nicht auch noch mit vermeidbaren Problemen an den Füßen quälen.
Viele Rennradfahrer legen großen Wert auf Etikette und Aussehen. Dazu gehört, den Mantel des Reifens so zu montieren, dass der Markenname des Herstellers direkt über dem Ventil steht. Das hat auch praktische Gründe: Man findet das Ventil einfacher und bei einem Platten lässt sich das Loch schneller lokalisieren. Manche Enthusiasten wollen ihr Rennrad in einem möglichst puren Look halten: also bloß keine Tasche am Sattel, keine Luftpumpe am Rahmen und auf keinen Fall irgendwo Aufkleber anbringen. Radhosen sollten nach diesen ungeschriebenen Regeln immer schwarz sein, so passen sie zu jedem Trikot, Schmutz und Schmiere machen kaum sichtbare Flecken. Die Bügel der Brille immer über den Riemen des Helms tragen: Bei einem Unfall soll die Brille sich möglichst nicht verhaken.
Ein großes Problem für Frauen beim Radfahren waren zu Beginn die Kleider. Die Röcke mussten also kürzer werden, besonders mutige Damen trugen gleich Pumphosen, so wird es unter anderem in dem Buch „Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität“ beschrieben, herausgegeben von der Stiftung Historische Museen Hamburg/Museum der Arbeit. Das Fahrrad war zunächst ein Luxusgut, bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor allem vom Bürgertum - vornehmlich von jungen Männern - genutzt. Den Frauen aus dieser Schicht habe das Rad eine „größere Bewegungsfreiheit“ gebracht und sicherlich auch eine gewisse persönliche Unabhängigkeit. Es gab aber auch viele Anfeindungen gegen die wagemutigen Damen.
Heute kann man es kaum mehr glauben, dass viele Menschen sich anfangs nicht vorstellen konnten, zur Fortbewegung dauerhaft die Füße vom Boden zu heben - das erschien als zu riskant. Wie sollte man das Gleichgewicht halten? Diese Sorge beschrieb später der Begriff „Balancierangst“. Vielleicht eine weitere Erklärung für die Furcht: der schlechte Zustand vieler Wege. Heute trainieren Kinder auf Laufrädern schnell und spielerisch, wie man auf zwei Rädern die Balance hält. Früher lernten die Menschen die Technik oft erst als Erwachsene. Und natürlich sind die Laufmaschinen und Räder von damals nicht mit denen von heute zu vergleichen, wenn es um Gewicht, Material und Komfort geht. Um ein Hochrad zu fahren, waren Übung und Mut erforderlich. Einfacher wurde es mit dem sogenannten Niederrad, die Beine konnte man neben dem Rad auf die Erde bringen und sicher stehen bleiben.
Die Sitten waren schon damals rau, es gab Konflikte zwischen Radfahrern und Fußgängern und Pferdekutschen - in unserer Zeit Autos. Schon sehr früh ergingen Verbote, wie es auch in dem Buch „Das Fahrrad - eine Kulturgeschichte“ von Hans-Erhard Lessing heißt. In Mannheim war das Fahren mit Laufmaschinen auf Bürgersteigen demnach bereits im Dezember 1817 untersagt. Die Technik machte Fortschritte, die Verbote hielten mit: So habe in Köln von 1870 bis 1895 in der Innenstadt ein Fahrverbot bestanden. In dem Ausstellungskatalog „Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität“ wird ein Zeitungsbericht aus Berlin zitiert, dass 1869 „nachts auf den breiten menschenleeren Trottoirs Unter den Linden einige Jünger des Velocipeds ihre nächtlichen Übungen treiben“. In vielen Kommunen mussten sich laut Lessing Fahrer und Rad registrieren lassen. Radfahrer wussten auch, wie sie in die Offensive gehen konnten: Hunde wurden mit Peitschen abgewehrt, die einsatzbereit am Lenker hingen.
Nach seinen Angaben sind die Hälfte aller Autofahrten in Städten kürzer als fünf Kilometer. Radfahren sei häufig die schnellste, kostengünstigste und umweltfreundlichste Form der Fortbewegung. „Je mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, desto weniger lärm- und abgasbelastet - sprich desto lebenswerter - werden unsere Städte.“
Bis zu Radstraßen und -schnellwegen, Fahrradparkhäusern, E-Bikes, Lastenrädern und Leihsystemen war es ein 200 Jahre langer Weg. Karl Drais aus Karlsruhe unternahm am 12. Juni 1817 in Mannheim die erste Fahrt mit seinem hölzernen Laufrad. Der Technikpionier hatte zwar keinen wirtschaftlichen Erfolg. Aber die Idee, zwei Räder in einer Spur mit Muskelkraft anzutreiben, eroberte nach und nach die ganze Welt. Mit Erfindungen wie Freilaufnabe, Stahlspeichen, Luftbereifung, Gangschaltung oder Federgabel entwickelte sich das Fahrrad über wunderliche Blüten wie das Hochrad zur aktuellen Formenvielfalt.
Inzwischen gibt es zu den bekannten Tourenrädern, Rennrädern und Mountainbikes auch eine Auswahl an Lastenfahrrädern, Liegerädern oder Dreirädern - alles auch mit Elektrounterstützung. Jedes Jahr werden dem Zweirad-Industrie-Verband zufolge mehr als vier Millionen Stück in Deutschland verkauft - von Schnäppchen bis zu Preisen, für die es fast einen Kleinwagen gäbe. Die gesamte Fahrradbranche einschließlich Tourismus steht für einen Jahresumsatz von rund 16 Milliarden Euro.
Schneller, teurer, weiter: Rekorde rund ums Fahrrad
Schnurgerade Strecke und ein windschnittiges Rad in länglicher Ei-Form: Im September 2016 beschleunigt der Kanadier Todd Reichert im US-Bundesstaat Nevada auf 144,17 Kilometer pro Stunde. Er knackt damit seinen eigenen Guinness-Rekord vom Vorjahr.
Der Niederländer Fred Rompelberg rast im Oktober 1995 hinter einem Dragster im US-Bundesstaat Utah auf 268,831 Stundenkilometer - und schafft es so ins Guinness-Buch der Rekorde.
Der britische Tour-de-France-Gewinner Bradley Wiggins legt im Juni 2015 im Olympischen Velodrom in London auf seinem Bahnrad in einer Stunde 54,526 Kilometer zurück - ein vom internationalen Radsport-Verband UCI anerkannter Rekord.
Mit dem Rad braucht der Neuseeländer Andrew Nicholson 2015 für fast 30.000 Kilometer 123 Tage und 43 Minuten - und ist damit laut Guinness der schnellste auf dieser Strecke.
Mit 4569 Kilometern legt Kurt Osburn im Frühsommer 1999 die weiteste Strecke nur auf dem Hinterrad zurück. Im Schnitt fährt der Amerikaner von Kalifornien nach Florida rund 60 Kilometer am Tag.
Das längste Zweirad wird im Januar 2015 in Australien gemessen. Forscher aus Adelaide müssen mit dem 41,42 Meter langen Gefährt 100 Meter zurücklegen - und schaffen es.
Auf dem wohl schwersten Fahrrad strampelt im September 2016 der Schleswig-Holsteiner Frank Dose. 1080 Kilogramm zeigt die Waage - der Rekord muss aber noch vom Guinness-Buch anerkannt werden.
Der größte Drahtesel wird im Oktober 2012 auf der Insel Usedom gemessen. Das Rad von Didi Senft ist 7,80 Meter lang und hat einen Raddurchmesser von 3,30 Metern.
Das teuerste Rad in einer Auktion ist laut Guinness ein vom britischen Künstler Damien Hirst mit echten Schmetterlingsflügeln verziertes Rad des US-Fahrers Lance Armstrong. Im November 2009 geht es bei Sotheby's für 318.000 Pfund (354.000 Euro) unter den Hammer.
Noch teurer ist das goldüberzogene und diamantverzierte Mountainbike des Herstellers The House of Solid Gold. Ein Exemplar gibt es für eine gepfefferte halbe Million US-Dollar (etwa 450.000 Euro).
„Entscheidend ist heute, in den Städten gute Bedingungen für das Radfahren zu schaffen“, sagt Städtetagspräsidentin Eva Lohse. Nötig seien etwa die Öffnung von Einbahnstraßen und Fahrradachsen in den Innenstädten. „Radlerinnen und Radler wünschen sich sichere und eigene Fahrwege“, betont die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen.
Im ganzen Land existieren Leuchtturmprojekte, die das Radfahren attraktiver machen sollen. Dazu zählt die Nordbahntrasse in Wuppertal - eine ehemalige Bahnlinie, auf der Radler über 23 Kilometer freie Fahrt haben. Am Bahnhof von Offenburg nimmt ein vollautomatisches Parkhaus den Radbesitzern die Sorge um ihr Gefährt. 120 Stellplätze auf 5 Etagen werden vollautomatisch und diebstahlsicher beschickt.
Auch fern der Städte nimmt das Radfahren stetig zu. „Im Freizeitbereich ist Deutschland ganz eindeutig Fahrradland“, sagt etwa Jannik Müller vom Verein Sauerland-Radwelt. Schon jetzt gebe es Tourismusregionen mit hochwertigen Angeboten.
Das Bundesverkehrsministerium will besondere Fahrradschnellwege für tägliche Fahrten etwa zur Arbeit, Schule oder Uni mit 25 Millionen Euro unterstützen. Von „kleinen Fahrradautobahnen“ ohne Gegenverkehr und Ampel spricht Staatssekretär Norbert Barthle (CDU). „In Göttingen wird eine solche fünf Kilometer lange Strecke zwischen Universität und Bahnhof von Tausenden gut angenommen“, betont er wiederholt.
Doch ob mit Millionenförderung oder ohne: Alles soll besser werden im oft heiklen Miteinander von Autofahrern, Radlern und Fußgängern. Viel öfter Tempo 30 in der Stadt und frühere Verkehrserziehung für Kinder sind Kernforderungen von Experten. Sie sollen im Autoland Deutschland die Lust aufs Radeln weiter erhöhen und auch die Zahl der Verkehrstoten senken - etwa durch eine mögliche Helmpflicht.