
Wirtschaft von oben #352 – Fahrzeugproduktion in Indien: Deutschlands Autoindustrie hat den wichtigsten Markt der Welt verschlafen
Der Verkehr auf Indiens Straßen ist die Hölle. Es wird gehupt, gedrängelt, entgegen der Fahrtrichtung gefahren – egal, ob in Mumbai, Delhi oder Jaipur. Die meisten Autos sind verbeult. Regelmäßig stehen Kühe auf der Straße. Und noch etwas fällt auf: Japanische und koreanische Marken wie Suzuki, Hyundai, Toyota und Kia dominieren. Hin und wieder sieht man Wagen indischer Hersteller wie Mahindra. Und deutsche Autos? Raritäten.
Die mangelnde Präsenz auf dem Subkontinent kommt besonders Volkswagen, aber auch BMW und Mercedes zurzeit teuer zu stehen. Der so lukrative chinesische Markt bricht weg. Chinesische E-Autos erscheinen auch anderswo als ebenbürtige Alternative. In den USA macht Donald Trump das Marktumfeld unberechenbar. Indien könnte ein Ausgleich sein, eine Absicherung – theoretisch. Stattdessen, so zeigt es die Analyse aktueller Satellitenbilder, sind es Suzuki, Hyundai und Co, die hier immer neue Autofabriken hochziehen.
Indien ist nach China und den USA heute der drittgrößte Automarkt der Welt. Und der am schnellsten wachsende. Das gilt auch für die Produktion. Liefen hier 2019 noch 3,4 Millionen Fahrzeuge vom Band, waren es 2024 schon fünf Millionen. Bis 2030 sollen es gar zehn Millionen sein, so Prognosen. 2021 hatte Indien Deutschland überholt. „Wo kann die Autoindustrie heute wachsen? Da ist Indien, vielleicht noch Vietnam“, sagt Peter Fintl, Vice President Technologie und Innovation bei der Beratung Capgemini und Kenner des indischen Marktes.
Das Wachstumspotenzial im bevölkerungsreichsten Land der Welt ist gewaltig. In Deutschland kommen auf 1000 Einwohner 630 Autos, in den USA 850, in China 230. In Indien sind es nur 57. Kein Wunder, dass fast die gesamte Produktion im Land verbleibt. Importzölle von 70 bis 110 Prozent sorgen zudem dafür, dass Autos aus dem Ausland teuer und im Massenmarkt chancenlos sind.
Besonders Suzuki profitiert davon. Der japanische Familienkonzern hatte 1982 mit der indischen Regierung das Joint Venture Maruti Suzuki gegründet. Patriarch Osamu Suzuki, so die Legende, hatte im Flugzeug gelesen, dass die Regierung einen Partner für Maruti suche, und sofort sein Managementteam darauf angesetzt. Heute halten die Japaner an dem börsennotierten Gemeinschaftsunternehmen 58 Prozent.
40 Prozent aller heute in Indien verkauften Autos kommen aus Fabriken von Maruti Suzuki. Um diese dominierende Rolle im rasant wachsenden Markt zu halten, muss Suzuki die Produktion massiv ausbauen. 2017 eröffnet das Unternehmen seine dritte Fabrik im Land, 70 Kilometer nordwestlich von Ahmedabad. Dieses Jahr wurde die vierte aufgemacht. Nahe Kharkhoda, am nordwestlichen Rand von Delhi.
Die neuen Fabriken lässt Suzuki zugleich ausbauen, zeigen die Aufnahmen. In der 2017 bei Ahmedabad gebauten kommt gerade eine vierte Fertigungsstraße dazu. Und auch im neuen Werk bei Delhi, das auf der grünen Wiese entsteht, gibt es Anzeichen für zwei weitere Fertigungsstraßen. Bis 2031 will das Unternehmen seine Jahresproduktion so auf vier Millionen Autos fast verdoppeln – so viel wie die ganze Branche in Deutschland baut.
Bilder: LiveEO/Sentinel
Dass Indien Potenzial hat, hatte VW in den 2000er-Jahren durchaus erkannt. 2009 schlossen die Wolfsburger eine Kooperation mit Suzuki, um superbillige Kleinwagen vor allem für Indien zu entwickeln. VW hatte sich damals mit 19,9 Prozent an den Japanern beteiligt. Doch die Partnerschaft zerbrach 2015 – nachdem Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn versuchten, das damals noch von Osamu Suzuki geleitete Familienunternehmen zu beherrschen. Nicht auszudenken, wo die Wolfsburger heute stünden, hätten sie Suzuki damals nicht verprellt: Maruti Suzuki allein ist heute an der Börse 50 Milliarden Euro wert – genauso viel wie der komplette Volkswagen-Konzern.

Suzuki greift mit Autos an, die in Europa unverkäuflich wären, lange schnitten sie schlecht in Crashtests ab. Doch in Indien zählen Preis und Verbrauch. Während Suzuki sein Modell Swift in Großbritannien für umgerechnet 17.000 bis 20.000 Euro verkauft, sind es in Indien in der Basisversion 5800 Euro, in einer besseren 8800. Dennoch erwirtschaftet Maruti Suzuki im Schnitt pro Auto 600 Euro Nettogewinn. Das entspricht etwa dem, was die Volkswagen-Tochter Audi im Schnitt je Auto verdient. Und dann sei da der Wiederverkaufswert, bei dem deutsche Autos schlecht abschnitten, so Ramnath Eswaravadivoo, Autoexperte beim indischen Berater MarketsandMarkets. Grund: „viel zu hohe Reparaturkosten“.
Heute vereinigen japanische und koreanische Marken mehr als zwei Drittel aller in Indien verkauften Autos auf sich. Zweitwichtigster ausländischer Produzent ist das koreanische Unternehmen Hyundai mit 13 Prozent Marktanteil. Erst seit 1998 im Land aktiv, profitiert der Konzern davon, dass die Inder zunehmend etwas größere und komfortablere Autos kaufen.
Bilder: LiveEO/Sentinel
Um mit dem Markt wachsen zu können, hat Hyundai zu seinen bestehenden zwei Fabriken kürzlich zwischen Pune und Mumbai ein altes General-Motors-Werk übernommen und umgerüstet. Inzwischen sei der Hersteller mit rund 20 verschiedenen Modellen in Indien vertreten, sagt Eswaravadivoo. Da sei, anders als bei den Deutschen, für jeden Kundenwunsch was dabei. Auf Satellitenbildern ist südlich des Werkes ein neuer großer Auslieferparkplatz erkennbar. In der Fabrik, die bis 2028 jährlich bis zu 250 000 Autos produzieren können soll, wird wohl auch ein von Indern für Indien entwickeltes E-Auto vom Band rollen. Hyundai-Chef José Muñoz betitelte das Land letzten Monat in der „Economic Times“ als „Hub für Innovation, Produktion und Export“.
Capgemini-Mann Fintl stimmt zu: Indien habe enormes Potenzial als Entwicklungsstandort für Autofirmen. Schließlich gebe es dort jede Menge Talente. Kia, eine Marke des Hyundai-Konzerns, nutzt die günstigen Löhne im Land zudem, um Fahrzeuge für andere Auslandsmärkte zu bauen. Etwa die Hälfte der Produktion des indischen Kia-Werks wird exportiert.
Besonders bitter für deutsche Autobauer aber ist, dass der indische Markt als einer von wenigen als sicher vor der gefürchteten chinesischen Konkurrenz gilt. Zwar versuchen auch hier Hersteller wie Geely und BYD Fuß zu fassen. Doch die Regierung in Delhi will sie kleinhalten. Schließlich gibt es mit dem nördlichen Nachbarn mehrere Grenzkonflikte. Indien fürchtet unter anderem, vernetzte Chinaautos könnten die Sicherheit gefährden. So schließt Delhi Chinas Produzenten etwa von Anreizen für neue E-Auto-Werke aus.
Hersteller aus Japan und Korea dagegen sind willkommen. Das größte Wachstum legt hier aktuell Toyota vor. Das Unternehmen hat an Indiens Automarkt nun einen Anteil von sieben Prozent. Etwa die Hälfte des Absatzes kommt von Gemeinschaftsprodukten mit Maruti Suzuki. Beide Firmen tauschen seit 2017 Technologien aus. Suzuki steuert billige Klein- und Kompaktwagenplattformen bei, Toyota SUV- und Hybrid-Know-how. Auch die Ambitionen von Toyota in Indien sind groß. Südlich der Stadt Chhatrapati Sambhajingar hat das Unternehmen ein Areal erworben, um ein drittes Werk hochzuziehen. Investitionssumme: rund zwei Milliarden Euro. Seit Sommer zeigen Satellitenbilder Erdarbeiten. Fertiggestellt soll das Werk 400 000 E- und Hybridautos im Jahr bauen.
Für Deutschlands Autohersteller gibt es dennoch etwas Hoffnung: Škoda. Die Absatzzahlen der tschechischen VW-Tochter legten in den ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 135 Prozent zu. Škoda kommt nun auf 1,7 Prozent Marktanteil. Volkswagen hatte seine Fabrik nahe Pune, wo Škoda fertigt, schon 2019 leicht erweitert, zeigen Satellitenbilder.

12.02.2024: Volkswagen betreibt nur eine vollwertige Fabrik in Indien. Ein zweites kleineres Werk montiert lediglich vorgefertigte Modelle, sogenannte CKD-Autos.
Dennoch glaubt Berater Fintl nicht an Wunder: Das Volumensegment sei verteilt, ein zweistelliger Marktanteil kaum zu erreichen. Und im Premiumsegment, wo Audi, Mercedes, Porsche und BMW angesiedelt sind? Dort gibt es Luft nach oben. Deutsche Edelmarken sind in der Zulassungsstatistik nicht zu finden – so unbedeutend ist ihr Marktanteil.
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