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Wirtschaft von oben #213 – Staudammkatastrophe von ChersonHier versinkt Cherson – und die Gefahr für das AKW Saporischschja steigt

Nach der Sprengung des Kachowka-Damms zeigen Satellitenbilder nun, wie unter anderem Industrieanlagen in und um Cherson untergehen – und die Gefahr für das Atomkraftwerk Saporischschja wächst. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.Svenja Gelowicz, Thomas Stölzel 08.06.2023 - 20:59 Uhr

Industrieanlagen südlich von Cherson stehen unter Wasser, wie die Luftaufnahme zeigt.

Foto: LiveEO/Skywatch

Weiterhin fließen gewaltige Wassermassen durch eine Bresche des in der Nacht zum Dienstag zerstörten Kachowka-Staudamms im Gebiet Cherson im Süden der Ukraine. Neueste Satellitenbilder von LiveEO lassen nun erahnen, wie dramatisch die Situation vor Ort für die Menschen und die ohnehin durch den Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft ist. Aber auch für Europas größtes Atomkraftwerk Saporischschja.

Der Stausee, aus dem das Wasser strömt, ist riesig. Er fasst 18 Milliarden Kubikmeter. Holger Schüttrumpf, Experte für Hochwasserschutz und Professor an der RWTH Aachen, zog im Gespräch mit der WirtschaftsWoche einen Vergleich: „Die zweitgrößte Talsperre Deutschlands ist die Rurtalsperre Schwammenauel in der Eifel, sie kann 203 Millionen Kubikmeter speichern – die in der Ukraine fasst also hundertmal mehr Volumen, als eine der größten Talsperren Deutschlands.“ 

Der Stausee leert sich nun ungehindert: Der Wasserstand in dem See sei binnen 24 Stunden um einen Meter gesunken und liege mit Stand Donnerstagmorgen (7.00 Uhr MESZ) bei 13,05 Meter. Das teilte der staatliche Wasserkraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo in Kiew mit. Die Mauer bröckele derweil weiter. Ein aktuelles großflächiges Satellitenbild des Dnipro vom Stausee bis zu Mündung zeigt, wie die Flut bereits große Teile der Gegend unter Wasser gesetzt hat.

Viele Orte sind schon überflutet, darunter auch die Gebietshauptstadt Cherson. Dort zeigte der Hochwasserpegel am Donnerstagmorgen 5,61 Meter an, wie der ukrainische Militärgouverneur Olexander Prokudin mitteilte. Die ukrainischen Behörden schickten am Mittwoch Helfer zur Rettung hunderter Menschen, die auf Dächern festsaßen. Die Einsatzkräfte sollten überschwemmte Gebiete auch mit Trinkwasser versorgen. Aber viele Menschen wollten das Gebiet nicht verlassen, sagte Produkin. 

Ein aktuelles Satellitenbild zeigt etwa jene gartenbaulich geprägte Region südlich von Cherson, in der es jede Menge kleine Gärtnereien gibt. Die Gewächshäuser im Ort Pishchanivka standen am Mittwoch allerdings nur zum Teil im Wasser, so wie die Wohnhäuser, die zu den Gärtnereien gehören. Wer weiter landeinwärts sein Grundstück hat, dürfte also Glück gehabt haben. Der Höhepunkt des Hochwassers wurde von Experten für Mittwoch erwartet.

Ebenfalls auf dieser Seite des Flusses, im Ort Oleschky, befindet sich die Papier- und Kartonfabrik Dunapack Tavria. Hinter der steht die österreichische Prinzhorn Gruppe. Die hatte schon Mitte Mai mitgeteilt, dass die Fabrik zerstört sei und eine Härtefallstiftung für Beschäftigte eingerichtet. Die Fabrik und das umliegende Industrieareal sind jetzt in den Fluten komplett versunken; ebenfalls ein Solarpark.

Nach russischen Angaben waren bis zu 40.000 Menschen in dem durch Russland besetzten Teil der Region Cherson betroffen. Die Ukraine hatte zuvor mitgeteilt, dass auf der durch ihre Truppen befreiten nördlichen Seite des Flusses rund 17.000 Menschen ihre Häuser verlassen mussten.

Die Gebietshauptstadt Cherson ist seit Ende des vergangenen Jahres wieder unter ukrainischer Kontrolle – anders als der Großteil der Region auf der südlichen Uferseite, die von russischen Truppen besetzt ist.

Wegen der Kriegshandlungen ist die Arbeit der Helfer erschwert und gefährlich. Nach ukrainischen Angaben sind derzeit 600 Quadratkilometer unter Wasser, darunter 32 Prozent auf von Kiew kontrolliertem Gebiet, 68 Prozent auf von Moskau besetztem Territorium.

In Cherson selbst, das eine Schiffbaustadt ist, setzen die Fluten nicht nur den Menschen, sondern auch den Werftanlagen zu, die trotz Krieg zum Teil offenbar immer noch in Betrieb waren – zumindest hatten Satellitenbilder vom Herbst darauf hingedeutet. Diese Anlagen stehen nun fast vollständig unter Wasser, zeigen Bilder, die am Mittwoch aus dem All aufgenommen wurden. 

Mit dem staatlichen Energieversorger Ukrenerho versuche man nun, negative Folgen zu mindern, hieß es weiter vom Wasserkraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo. So solle etwa die Arbeitsweise anderer Wasserkraftwerke und Staudämme oberhalb der zerstörten Anlage auf dem Fluss Dnipro geändert werden, um mehr Wasser vor der Station Kachowka zu stauen und den Druck und die Überschwemmungen im Süden des Landes zu reduzieren.

Ein weiteres Satellitenbild von Cherson zeigt einen Park im Dniprowski Distrikt von Cherson, der durch ein Wohnviertel vom Fluss getrennt wird. Dieses Areal am Fluss scheint eigentlich überflutungsgefährdet zu sein. Doch ein Satellitenbild zeigt, dass nur die vorderen Grundstücke Wasser abbekommen haben. Der Park liegt weiterhin trocken.

Unklar ist bislang die Schuldfrage: Die Ukraine beschuldigt russische Truppen, das Wasserkraftwerk vermint und dann gesprengt zu haben. Dagegen behauptet Russland, der Staudamm sei durch ukrainischen Beschuss zerstört worden. In den sozialen Medien kursieren Videos, die den Moment zeigen sollen, in dem der Damm gesprengt wird. 

Die Folgen sind verheerend: Nicht nur sind Tausende Menschen akut von der Katastrophe betroffen, auch sind die Sorgen vor einer Umweltkatastrophe groß, da Chemikalien und Ölprodukte in Flüsse und das Meer gelangen könnten. Außerdem zerstören die Fluten Felder, die Trinkwasserversorgung ist gekappt, Strommangel droht. Eine aktuelle Simulation der Universität RWTH Aachen zeigt, wie sich das Wasser in der Region ausbreitet. 

Das Wasser des Kachowka-Staudamms, den offenbar russische Einheiten gesprengt haben, breitet sich rasant aus – wie schnell das geht, zeigt eine Simulation. Quelle: RWTH Aachen

Etwas westlich von Cherson, am ukrainisch kontrollierten Ufer des Dnipro, liegt der Ort Antoniwka mit der Antonowski-Brücke. Diese wurde schon im vergangenen Jahr gesprengt. Von der Flut ist das Areal nur marginal betroffen. Es liegt offenbar hoch genug.

Extrem wichtig ist der Stausee allerdings für Europas größtes Atomkraftwerk Saporischschja. Zwar hat das ein eigenes Kühlwasserreservoir. Das aber speist sich aus dem Stausee. Die internationale Atomenergiebehörde IAEA hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass der Wasserstand bis zum Mittwochabend im See bereits um 2,8 Meter gefallen sei, auf 14,03 Meter. Jede Stunde sinke er um weitere fünf bis sieben Zentimeter. Allerdings verlangsame sich die Geschwindigkeit etwas. Ein Satellitenbild vom Mittwoch zeigt nun, wie stark der Wasserspiegel bereits im See gefallen ist. Wenn das Wasser unter 12,70 Meter sinke, könne das Kraftwerk kein Wasser mehr in das Kühlwasserreservoir pumpen, dass die Mitarbeiter des Werkes gerade so weit wie möglich auffüllen.

Wenn das Reservoir voll sei, reicht das laut IAEA, um die Brennstäbe in den sechs Reaktoren und in den Abklingbecken für mehrere Monate zu kühlen. Die internationale Behörde weist jedoch darauf hin, dass es nun unabdingbar ist, das Kühlwasserreservoir unbedingt zu schützen. Auf den Dämmen, die das Reservoir vom See trennen, wird nun eine größere Last liegen, da der Gegendruck aus dem Stausee fehlt. 

Fünf der sechs Reaktoren im Kraftwerk Saporischschja sind bereits kalt abgeschaltet. Ein Block ist weiterhin heiß abgeschaltet, um vor Ort Prozessdampf für Tätigkeiten wie die Behandlung flüssiger radioaktiver Abfälle zu erzeugen, die auch während der Abschaltung der Reaktoren aus den sechs Reaktoren gesammelt werden. Dennoch müssen Brennstäbe für mehrere Jahre gekühlt werden.

Hier finden Sie alle Beiträge aus der Rubrik „Wirtschaft von oben“

Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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Mit Material der Agenturen


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