Autofahren „Den Stress beim Fahren machen wir uns größtenteils selbst“

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„Eine wahre Revolution steht uns dort ins Haus“

Halten Sie die Furcht vor entsprechenden Assistenz-Systemen für eine Charaktereigenschaft Einzelner oder handelt es sich um grundsätzliche Zweifel an etwas, das uns Menschen noch neu ist?
Das ist eine wahre Revolution, die uns dort ins Haus steht. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Der Fahrer ist mit diesen neuen Chancen und Grenzen noch viel zu wenig vertraut. Es werden immer wieder Bedenken an der Einhaltung des Datenschutzes, der Systemzuverlässigkeit in wirklich allen Verkehrssituationen und an der Schuldfrage bei Unfällen vorgebracht. Es gibt aber auch den gegenläufigen Effekt, wonach sich der Fahrer „blind“ dem System anvertraut und deshalb unvorsichtig und „selbstgefällig“ wird. Dies hat im weitesten Sinne etwas mit Selbstüberschätzung zu tun, die wir gerade bei jungen Autofahrern immer wieder beobachten. Jungfahrer, die ihren Führerschein erst ein, zwei Jahre haben, glauben zu spüren, dass sie schon besonders gut fahren und immunisieren sich damit vollkommen von Gefahrenreizen. Ein ähnliches Gefahrenpotenzial muss man für das automatisierte Fahren auch postulieren, wenn die Menschen nicht ausreichend darauf vorbereitet werden.

Das heißt, Sie sehen ein Risiko im Wandel zum automatisierten Fahren?
Uns als Fachgesellschaft bereiten die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für automatisierte Fahrsysteme geschaffen wurden, viel größere Sorge als die mangelnde Akzeptanz. Demnach gehört es zu den Rechten und Pflichten des Fahrzeugführers, dass er sich von der Fahraufgabe abwenden darf. Er muss allerdings derart wahrnehmungsbereit sein, dass er jederzeit die Steuerung in einer Gefahrensituation übernehmen kann. Entweder, wenn das System dazu auffordert, oder offensichtliche äußere Umstände eine Übernahme erforderlich machen. Diese Regelung ist so jedoch nicht mit den menschlichen Fähigkeiten konform. Ein Mensch kann sich im vollautomatisierten Fahrmodus nicht abwenden und sich auf eine andere Tätigkeit konzentrieren – etwa auf einem Display spielen oder etwas suchen – und gleichzeitig die Umgebung so überwachen, sodass er Gefahren schnell genug erkennen und das Steuer im Notfall übernehmen kann. Das geht einfach nicht.

Eine bewusste Informationsverarbeitung ist nur in einem ganz engen Fokus unserer Aufmerksamkeit möglich. Ich habe ein plastisches Beispiel, wie Sie sich Ihren Aufmerksamkeitsrahmen vergegenwärtigen können: Sie strecken den Arm aus und gucken auf Ihren Daumen. Im Bereich des Daumennagels und ein wenig um ihn herum haben Sie scharfes Sehen. Was an den Rändern passiert, können Sie nur erahnen – und das ist das Problem. Wenn Sie im automatisierten Fahrmodus im Auto auf einen Monitor schauen und sich darauf konzentrieren, ist es Ihnen unmöglich, von der Peripherie einströmende Gefahren so zu erkennen, wie wenn Sie selbst steuern würden. Hier sind Konflikte absehbar. Damit hat der Gesetzgeber ein schier unlösbares Anforderungskonglomerat geschaffen, das mit den menschlichen Möglichkeiten nicht einhergeht.

Haben Sie denn einen Vorschlag, wie es besser, realitätsnaher, geregelt werden könnte?
Die technischen Systeme müssten so ausgestattet sein, dass sie in der Außenüberwachung alles erkennen und den Fahrer rechtzeitig warnen und zur Übernahme auffordern. So würde der Fahrer von den Systemen gewarnt und müsste erst dann übernehmen. So wäre er von der Verpflichtung entbunden – wie es jetzt im Gesetz steht – als übermächtiger Beobachter alles innerhalb und außerhalb des Fahrzeugs im Blick zu haben. Des Weiteren muss herausgefunden werden, welche Grenzen es bei den Nebentätigkeiten gibt. Von so mancher Tätigkeit kann ich mit Sicherheit schneller wieder ans Steuer umswitchen als von anderen. Und manche Beschäftigung wird einen so fesseln, dass eine schnelle Umorientierung zurück an die Fahrzeugsteuerung gar nicht möglich ist. Hier gibt es noch enormen Klärungsbedarf, welche Form der Ablenkung möglich, zulässig, zumutbar ist – und wo Grenzen hermüssen. Auch dürfen wir uns der evidenzbasierten und langjährig bekannten Faktenlage nicht verschließen, wonach Menschen unterschiedlich lange Reaktionszeiten und eine hohe Streubreite bei der Verarbeitung von Informationen aufweisen. Allen Fahrern zu unterstellen, sie könnte gleichgut und stabil auf zum Beispiel. Systemanforderungen zur Übernahme der Fahraufgabe reagieren, sind Wunschdenken und passen nicht zu den verfügbaren Daten aus wissenschaftlichen Studien.

Wird in diesem Bereich denn ausreichend geforscht?
Eindeutig nein! Meines Wissens gibt es wenige Studien, die sich mit den Grenzbedingungen des automatisierten Fahrens auseinandersetzen. Und wir schauen zu wenig über den Tellerrand hinaus und lassen Chancen ungenutzt, z.B. von den Erkenntnissen aus der Luftfahrt zu lernen. Relativ viel wird zum Thema Übernahmefähigkeit – im Englischen Take-over-request – geforscht. Hierzu erhalten wir aus dem englischsprachigen Raum alarmierende Daten, die allerdings hierzulande bislang kaum Beachtung findet. Demnach variiert die Übernahmefähigkeit eines Fahrers von 2,8 bis 40 Sekunden. Das ist immens. In jedem Falle braucht ein Mensch mehrere Sekunden nachdem das Auto einen Alarm ausgelöst hat, bis er reagiert und übernehmen kann. Dabei scheint ein gesprochener Übernahmeappell, ähnlich wie in der Luftfahrt etabliert, günstiger zu sein als ein Sinuston. Solche Ergebnisse werden derzeit noch zu wenig einbezogen, um das Mensch-Maschine-System im Auto zu optimieren. Man gewinnt stellenweise den Eindruck, als sollte sich der Mensch dem System anpassen und nicht umgekehrt.

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