VW-Abgas-Skandal Was wusste Winterkorn?

Der VW-Skandal ist noch nicht aufgeklärt, beschäftigt aber schon die Gerichte. Im Zentrum steht eine Frage: Wann wusste der Vorstand Bescheid? Die neuen Hinweise im Überblick.

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Volkswagen Dieselgate Martin Winterkorn Quelle: dpa

Auf knapp 120 Seiten hat Volkswagen den bisherigen Stand der internen Aufarbeitung zum Diesel-Skandal zusammengefasst, um sich damit gegen Anlegerklagen zu wehren. Die Investoren werfen auch dem VW-Vorstand eine Mitschuld vor. Das hält der Konzern für haltlose Behauptungen. Die wichtigsten Punkte im Überblick.

Wann hat der damalige Konzernchef Martin Winterkorn die ersten Hinweise erhalten?

Am 23. Mai 2014 – also anderthalb Jahre vor Bekanntwerden des Abgasskandals – wurde Winterkorn in einer Notiz darüber informiert, dass die amerikanischen Umweltbehörden Epa und Carb Unregelmäßigkeiten bei den Abgasen von VW-Dieselautos untersuchen. Der Vermerk lag Winterkorns Wochenend-Post bei – der Konzern war frühzeitig informiert. Zu diesem Zeitpunkt war aber nur von auffälligen Abweichungen beim Abgasverhalten die Rede, nicht von Manipulationen oder einem mutwilligen Betrug. VW selbst schreibt: "Ob und inwieweit Herr Winterkorn von dieser Notiz damals Kenntnis genommen hat, ist nicht dokumentiert." Laut einem Bericht des "Handelsblatt" soll er den Hinweis "registriert, ihm aber keine große Bedeutung beigemessen" haben – Quellen für diese Aussage nennt die Zeitung aber nicht.

Wann musste er wissen, dass VW betrogen hat?

Im November 2014 verdichteten sich die Hinweise. Am 14. November erhielt Winterkorn eine Notiz, wonach 20 Millionen Euro für einen Rückruf der Dieselautos in Nordamerika veranschlagt wurden. Der Vorgang hat aber laut VW "nach aktuellem Kenntnisstand, da sie vielmehr als ein Produktthema unter vielen behandelt wurde, zunächst auf den Führungsebenen bei Volkswagen keine besondere Aufmerksamkeit" erhalten. Immer noch nicht war von Betrug die Rede. Im Mai 2015 erhielt ein VW-Justiziar einen Hinweis auf den "möglichen Einsatz eines sogenannten Defeat Device", wie das "Handelsblatt" schreibt. Unternommen habe der Experte nichts.

Winterkorn selbst muss spätestens am 27. Juli 2015 von der Schwere der Probleme erfahren haben. An diesem Tag besprach er mit dem zum Monatsanfang angetretenen VW-Markenvorstand Herbert Diess und zahlreichen Technikern über Mängel an aktuellen Modellen. Laut Protokoll kamen auch "Hintergründe zur Dieselthematik" zur Sprache. Konkrete Details dieser Besprechung sind derzeit aber noch nicht rekonstruiert. "Es ist insbesondere nicht geklärt, ob zwischen den Beteiligten bereits zu diesem Zeitpunkt ein Verständnis davon gegeben war, dass die Softwareveränderung gegen US-amerikanische Umweltvorschriften verstieß. Herr Winterkorn forderte eine weitere Aufklärung des Sachverhalts", schreibt VW.

Woher stammen die Informationen?

Volkswagen hat am vergangenen Mittwoch eine Klageerwiderung beim Landgericht Braunschweig eingereicht, wo im Oktober 2015 die ersten Aktionärsklagen eingereicht wurden. Der Konzern begründete den Schritt und die Veröffentlichung eines vierseitigen Auszugs aus dem Dokument, um die "aus Unternehmenssicht selektive und unvollständige Veröffentlichung von Dokumenten in den Medien über die Diesel-Thematik richtigzustellen und zu vermeiden, dass nunmehr auszugsweise über die Klageerwiderung berichtet wird". Die vollständige 115-seitige Klageerwiderung mit zusätzlichen Details liegt aber inzwischen mehreren Medien vor.

Die Abgas-Tests in Deutschland und Europa

Warum kam die Ad-hoc-Mitteilung an die Aktionäre erst am 22. September 2015?

Das ist die Frage, die die Gerichte im Zuge der Aktionärsklagen klären müssen. Der entscheidende Punkt ist, wann sich eine kapitalmarktrechtliche Relevanz ergeben hat – also der Zeitpunkt, an welchem dem Unternehmen klar war, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Vorfalls enorm sind – in diesem Fall weit über die eines "gewöhnlichen" Rückrufs hinausgehen. Dann ist eine Aktiengesellschaft verpflichtet, diese Information unverzüglich ("ad hoc") seinen Aktionäre mitzuteilen.

So argumentiert der VW-Konzern

Wie argumentiert Volkswagen?

Volkswagen hält die anhängigen Aktionärs-Klagen für unbegründet, da aus Sicht des Unternehmens und der Kanzlei Göhmann, die die Klageerwiderung für VW verfasst hat, jede Ad-hoc-Pflicht voraussetzt, dass "die für die Erfüllung dieser Pflicht verantwortlichen Personen Kenntnis eines kursrelevanten Sachverhalts erlangen und die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Information abschätzen können".

"Im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik ergab sich eine Kursrelevanz erst am 18. September 2015, als die Verletzung US-amerikanischer Umweltschutzrichtlinien bekannt gemacht wurde", schreibt VW. "Bis dahin gab es keinerlei Anzeichen für börsenkursrelevante Informationen, denn bis zu diesem Zeitpunkt war von einer überschaubaren Fahrzeug-Anzahl (etwa 500.000) und Bußgeldern in einem zweistelligen oder unteren dreistelligen Millionen-Bereich auszugehen, wie in der Vergangenheit in den USA in vergleichbaren Fällen im Zusammenhang mit Personenkraftfahrzeugen verhängt. Die Diesel-Thematik schien nach bestem Kenntnisstand durch übliche und damit kursneutrale Maßnahmen einschließlich wirksamer technischer Lösungskonzepte beherrschbar." Nachdem im Anschluss an die "Notice of Violation" eine erste belastbare Zahlenbasis über die weltweiten Risiken ermittelt worden war, sei diese vorläufige Abschätzung am 22. September 2015 unverzüglich ad-hoc gemeldet worden.

Ist diese Argumentation haltbar?

Die Kanzlei Tilp, die am 1. Oktober 2015 die erste Aktionärsklage gegen VW wegen der unterlassenen rechtzeitigen Ad-hoc-Mitteilung eingereicht hat, hält die Pressemitteilung von VW für "irreführend und falsch". Die Kanzlei beruft sich dabei auf ein BGH-Urteil aus dem Jahr 2000, wonach die Ad-hoc-Pflicht das börsennotierte Unternehmen als solches und nicht den Vorstand oder einzelne Vorstandsmitglieder trifft. "Die Zurechnung steht der Geltendmachung von Unkenntnis entgegen, ohne dass sie eine tatsächlich fehlende Kenntnis ersetzt", heißt es in dem Urteil – sprich: Die Ad-hoc-Pflicht für ein Unternehmen gilt auch, wenn das Wissen Mitarbeitern unterhalb der Organebene zugerechnet wird.

"Selbst auf Grundlage der – unzutreffenden – Auffassung von Volkswagen ist allerdings nicht nachvollziehbar, was noch gegen eine Kenntnis beziehungsweise grob fahrlässige Unkenntnis ihres damaligen Vorstandsvorsitzenden Winterkorn spätestens ab dem 23. Mai 2014 sprechen soll, nachdem Volkswagen bereits öffentlich einräumen musste, dass Martin Winterkorn zu diesem Zeitpunkt über die behördlichen Ermittlungen zu den dramatisch erhöhten NOx-Emissionen informiert wurde, sowie darüber, dass davon auszugehen sei, dass die Behörden die VW-Systeme daraufhin untersuchen werden, ob Volkswagen eine Testerkennung in die Motorsteuergeräte-Software implementiert hat“, sagte Rechtsanwalt Axel Wegner.

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