Niedrige Löhne, üppige Subventionen und keine Gewerkschaften – damit werben die Südstaaten der USA um Investitionen der internationalen Autoindustrie. Zumindest bei den deutschen Konzernen haben diese Argumente gewirkt. Ihre Autowerke, die seit den 1990er Jahren entstanden sind, stehen allesamt in Alabama, Tennessee oder South Carolina.
Wenn die Gegenleistung stimmt, hat natürlich kein Manager etwas gegen geringe Arbeitskosten oder Zuschüsse einzuwenden. Viele US-Arbeitnehmer und Arbeitsrechtler hatten jedoch gehofft, dass mit den deutschen Unternehmen auch deren Mitbestimmungs-Kultur in den Südstaaten Fuß fasst.
Doch sie wurden enttäuscht: „Unternehmen und Manager, die sich in Deutschland für die Mitbestimmung einsetzen, arbeiten im Ausland mit allen Tricks“, sagt Carsten Hübner. Der 47-jährige Berliner ist Direktor des Transatlantic Labor Institute (TLI) mit Sitz in Spring Hill, Tennessee.
Im vergangenen Jahr haben die IG Metall und das US-Pendant Union Auto Workers (UAW) das TLI als Bildungseinrichtung und Denkfabrik für den gegenseitigen Austausch gegründet. Hier sollen sich amerikanische Unternehmer und Arbeitnehmervertreter über die Gepflogenheiten und Regelungen in Deutschland informieren können – aber auch umgekehrt Deutsche über die teilweise komplizierten Arbeitsgesetze in den US-Bundesstaaten.
Über 100.000 Arbeitsplätze sind bislang bei der deutschen Autoindustrie in den USA entstanden. BMW in Spartanburg und Daimler in Tuscaloosa sind bereits seit den 1990er Jahren aktiv, 2011 öffnete das VW-Werk in Chattanooga. Bei den Autobauern selbst arbeiten heute rund 35.000 Menschen, dazu kommen über 70.000 Beschäftigte bei den Zulieferern, die sich im Umfeld angesiedelt haben.
Die US-Werke der deutschen Autokonzerne
Pkw-Werk in Vance (Tuscaloosa)
Bundesstaat: Alabama
Mitarbeiter: 3.500
Modelle: C-Klasse (für Nordamerika), GLE, GLS
Lkw-Werk in Cleveland
Bundesstaat: North Carolina
Mitarbeiter: ca. 3000
Lkw-Werk in Mount Holly (Freightliner)
Bundesstaat: North Carolina
Mitarbeiter: 1.000
Lkw-Werk in Portland (Western Star)
Bundesstaat: Oregon
Mitarbeiter: 1.000
Van-Werk in Charleston (im Bau)
Bundesstaat: South Carolina
Mitarbeiter: bis zu 1.300 (geplant)
Modelle: Sprinter
Pkw-Werk in Spartanburg
Bundesstaat: South Carolina
Mitarbeiter: 8.000
Modelle: X3, X4, X5, X6
Pkw-Werk in Chattanooga
Bundestaat: Tennessee
Mitarbeiter: 2.200
Modelle: US-Passat, künftig Midsize-SUV
Doch das Mitbestimmungsprinzip mit einem starken Betriebsrat im Zentrum ist in Deutschland geblieben. Keines der Werke ist gewerkschaftlich organisiert, ebenfalls bei der Mehrheit der Zulieferer. Bei Volkswagen ist Chattanooga das einzige Werk weltweit ohne Betriebsrat, selbst in den chinesischen Werken sind die Arbeiter organisiert.
Das hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten sind die sogenannten „Right-to-Work“-Gesetze. Was nach Recht auf Arbeit klingt, untergräbt jedoch die Finanzierung der Arbeitnehmervertreter. Ohne Right-to-Work-Regeln können Gewerkschaften einen Betrieb organisieren und dafür von allen Angestellten (egal ob Mitglied oder nicht) Gebühren verlangen. Mit neuen Gesetzen können Gewerkschaften nur noch Mitgliedsbeiträge und freiwillige Zahlungen einstreichen. Sie organisieren aber weiterhin den gesamten Betrieb – sprich gleiche Kosten, aber weniger Einnahmen.
UAW hat an gesellschaftlicher Bedeutung verloren
Auch wegen solcher Gesetze haben die Gewerkschaften, nicht nur die UAW, massiv an Mitgliedern verloren. Waren Anfang der 1970er Jahre noch über 30 Prozent aller US-Angestellten in einer Gewerkschaft, ist es heute weniger als jeder Zehnte.
Produktionskapazitäten deutscher Autobauer in Nordamerika 2000-2025
BMW Mexiko: 1.594 Einheiten
BMW USA: 83.672 Einheiten
Daimler Mexiko: 0 Einheiten
Daimler USA: 83.720 Einheiten
Volkswagen Kanada: 0 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 423.807 Einheiten
Volkswagen USA: 0 Einheiten
Quelle: IHS Global
BMW Mexiko: 0 Einheiten
BMW USA: 124.816 Einheiten
Daimler Mexiko: 0 Einheiten
Daimler USA: 105.474 Einheiten
Volkswagen Kanada: 0 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 299.862 Einheiten
Volkswagen USA: 0 Einheiten
Quelle: IHS Global
BMW Mexiko: 0 Einheiten
BMW USA: 154.276 Einheiten
Daimler Mexiko: 0 Einheiten
Daimler USA: 134.447 Einheiten
Volkswagen Kanada: 15.342 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 436.128 Einheiten
Volkswagen USA: 0 Einheiten
Quelle: IHS Global
BMW Mexiko: 0 Einheiten
BMW USA: 371.475 Einheiten
Daimler Mexiko: 0 Einheiten
Daimler USA: 302.129 Einheiten
Volkswagen Kanada: 0 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 460.237 Einheiten
Volkswagen USA: 117.152 Einheiten
Quelle: IHS Global
BMW Mexiko: 94.707 Einheiten
BMW USA: 383.288 Einheiten
Daimler Mexiko: 171.535 Einheiten
Daimler USA: 307.077 Einheiten
Volkswagen Kanada: 0 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 738.607 Einheiten
Volkswagen USA: 241.631 Einheiten
Quelle: IHS Global
BMW Mexiko: 155.308 Einheiten
BMW USA: 260.330 Einheiten
Daimler Mexiko: 140.403 Einheiten
Daimler USA: 281.273 Einheiten
Volkswagen Kanada: 0 Einheiten
Volkswagen Mexiko: 796.325 Einheiten
Volkswagen USA: 257.960 Einheiten
Quelle: IHS Global
In 25 der 50 US-Bundesstaaten gelten derzeit Right-to-Work-Gesetze. Von den Südstaaten, in denen die Gewerkschaften traditionell kaum eine Rolle spielen, haben sich diese Regelungen weit verbreitet. In der Amtszeit von US-Präsident Obama sind sogar in Bundesstaaten wie Indiana und Michigan Right-to-Work-Gesetze verabschiedet worden, also Staaten aus dem „Rust Belt“ – jener ehemaligen Industrieregion rund um die Großen Seen, in denen die Gewerkschaften besonders tief verwurzelt waren.
Die Betonung liegt auf „waren“, denn unter anderem mit dem Niedergang der amerikanischen Autoindustrie rund um Detroit haben UAW und Co. an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Mit dem Einfluss der Gewerkschaften ist auch die Zustimmung der Demokraten im Rust Belt gesunken. Die nicht erwarteten Siege von Donald Trump in Michigan und Wisconsin, welche die US-Wahl mit entschieden haben, sind nur das neueste Beispiel dafür.
Klar ist: Hillary Clinton ist es nicht gelungen, die Arbeiter im Rust Belt so anzusprechen wie Barack Obama. Gepaart mit dem Winner-takes-it-all-Prinzip reicht so eine kleine Verschiebung aus, um den gesamten Bundesstaat zu verlieren.
„Clinton galt als Teil des Establishments. Sie wurde für die negativen Folgen der Freihandelspolitik hinsichtlich Jobs und Löhnen persönlich verantwortlich gemacht“, fasst Hübner seine Eindrücke zusammen. „Und ihr heftete das Stigma an, es mit den einfachen Leuten nicht ehrlich zu meinen, sondern mit gespaltener Zunge zu sprechen. Das kam in der klassischen Industriearbeiterschaft nicht überall gut an, auch wenn sich die Gewerkschaften größte Mühe gaben, für Clinton zu werben.“
Doch Mitgliederschwund und Finanzierungsprobleme sind nicht allein für die aktuelle Lage der US-Gewerkschaften verantwortlich – erst recht nicht in den relativ neuen Werken der deutschen Unternehmen. Hier hat Hübner eine andere Ursache ausgemacht: „Es gibt viel Unwissenheit über das Arbeitsrecht in vielen US-Bundesstaaten.“
Denn neben den Right-to-Work-Regeln haben einige Staaten noch weitere Gesetze etwa zum Mindestlohn oder Kündigungsschutz. Damit hat auch Heiko Juerges Erfahrung gemacht. Als Geschäftsführer eines IT-Dienstleisters kam er vor einigen Jahren zusammen mit VW nach Chattanooga. Eines seiner Probleme: Angestellte können ohne Kündigungsfrist von heute auf morgen das Unternehmen verlassen. Da in der Regel kein Ersatz angelernt werden konnte, geht so regelmäßig wichtiges Wissen verloren.
Immer schwerer gute Qualität zu produzieren
„Wir haben sogar Anwälte zurate gezogen, um eine Lösung zu finden, wie wir unsere Mitarbeiter längerfristig an uns binden können. Etwa durch mehr Gehalt oder andere Vorteile, wenn er einen mehrjährigen Vertrag unterschreibt“, sagt Juerges. „Aber das ist in Tennessee per Gesetz nicht möglich.“
Dazu kommt, dass viele Amerikaner bereits für ein geringes Lohnplus den Arbeitgeber wechseln und sogar größere Umzüge auf sich nehmen. Ein Beispiel: Als General Motors die im Zuge der Krise 2009 stillgelegte Fabrik in Spring Hill reaktivierte, haben sie mit großflächigen Anzeigen im Umfeld eines nahegelegenen Nissan-Werks geworben. Da GM besser zahlte, konnten sie sich die besten Nissan-Angestellten sichern.
Wie bei Juerges‘ H&D Corporation geht so wichtiges Knowhow verloren – und wenn noch zur direkten Konkurrenz, ist das umso schmerzhafter. Auch VW ist davon nicht verschont: Aus dem Umfeld des Werks in Chattanooga ist zu hören, dass jedes Jahr rund ein Viertel des Personals das Unternehmen wechselt. Mit dieser Fluktuation ist es umso schwerer, gute Qualität zu produzieren.
Das Werk in Chattanooga gerät in Deutschland immer wieder in die Schlagzeilen: 2014 hatte die gesamte Belegschaft mit 712 zu 626 Stimmen gegen den Beitritt zur UAW gestimmt – ob auf Druck des Managements oder der allgemeinen Gewerkschafts-Skepsis in den Südstaaten sei dahingestellt. Dabei war es schon mehr als unüblich, dass es überhaupt zu dieser Abstimmung gekommen war.
Die gewerkschaftliche Organisation ist für VW aber immer noch nicht ausgestanden: Inzwischen haben sich die Mitarbeiter der Instandhaltung mit 108 zu 44 Stimmen für die UAW ausgesprochen. Volkswagen weigert sich allerdings bis heute, mit den auf Wartungsarbeiten spezialisierten Angestellten einen eigenen Tarif auszuhandeln – man wolle die Belegschaft nicht spalten.
Die US-Behörde für Arbeitsbeziehungen (NLRB) hat im April Volkswagen zwar angewiesen, die Tarifverhandlungen aufzunehmen, doch gegen den Bescheid haben die Niedersachsen inzwischen Berufung eingelegt. Das Argument ist das gleiche: Man wolle keine Trennung der Belegschaft in Mitarbeiter der Produktion und der Instandhaltung.
Die Entscheidung über die Berufung steht noch aus. Egal ob sie für oder gegen die Gewerkschaft ausfällt, die Gesamtsituation wird nicht einfacher.
Für Hübner und das Transatlantic Labor Institute gibt es also noch viel zu tun.